Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
ihren Ufern bot sich ein ungewohnter Anblick: Tyrrfholyn und bewaffnete Menschen patrouillierten dort.
Zwar gab es eine Menschengarde im Reich der Tyrrfholyn, doch sie erfüllte eher zeremonielle Verpflichtungen, hatte farbenfrohe Uniformen mit Federbüschen auf den Helmen und Schwertern, deren Herstellung die Tyrrfholyn nur widerwillig gestattet hatten. Die Schmiede unter den Traumwerkern mochten Schwerter. Gelegentlich war es auch schon vorgekommen, dass Menschen sich gegenseitig damit bekämpft oder getötet hatten. Ein vorübergehendes Verbot von Schwertern hatte diese tragischen Vorfälle allerdings nicht verhindert. Man konnte sich auch mit Steinen, Küchenmessern und Pilzgerichten umbringen, wenn man unbedingt wollte. Dass man das bisweilen wollte, hatten die Tyrrfholyn wahrlich nicht gutgeheißen. Doch auch sie selbst hatten schon Krieg geführt, sie wussten also um das Töten und kannten den Unterschied zwischen philosophischer Utopie und der Realität.
In dieser wenig erfreulichen Realität also standen Perjanu und Esteron nun in der Morgensonne an der Yssen. Auch sie dachten ans Töten, wenngleich eher im Passiv. Hier ging es mehr um das Getötet-Werden.
» Wir wissen nichts, mein Fürst. Was du vorhast ist Wahnsinn! « , begehrte Perjanu auf.
» Wir werden es nie herausfinden, wenn ich es nicht probiere « , gab Esteron zurück. Er hielt einen goldenen Stirnreif in der Hand, in dessen Zentrum ein funkelnder, blauer Stein eingelassen war. Das Blau war intensiv und leuchtend. Es schien zu leben, immer wieder schimmerte plötzlich eine andere Farbe hervor, um dann wieder im Blau zu versinken.
» Das kann nicht dein Ernst sein! « , erregte sich Perjanu. » Wir wissen nicht, ob das wirklich eine Nymphenseele ist oder einfach nur ein Stein. Wir wissen nicht, ob eine Nymphenseele überhaupt irgendetwas bewirkt. Wir wissen nicht, was in diesem Fluss lauert, oder was wir anlocken könnten, wenn wir darin eintauchen. Wir wissen nicht, ob man ein besonderes Wissen braucht, um die andere Welt zu erreichen. Wir wissen auch nicht, welche Zeit beim Hin- und Herreisen – sollte es tatsächlich möglich sein – verlorengeht. Die alten Berichte der Menschen legen die Annahme nahe, dass Zeitabläufe nicht parallel sein müssen. Wir wissen gar nichts . «
Der alte Schanchoyi war beinahe laut geworden in seiner Entrüstung.
» Nun « , versuchte Esteron ihn zu beschwichtigen, » dass wir gar nichts wissen, trifft so nicht zu. «
» Stimmt « , gab Perjanu sarkastisch zurück. » Was wir sicher wissen, ist, dass du ein wirklich schlechter Schwimmer bist. Und tauchen kannst du etwa so gut wie ein Stein. Enygme wird entsetzt sein. «
» Ich werde sie nicht über meinen Versuch unterrichten. Sie hat Wichtigeres zu tun. «
» Du kannst doch nicht einfach in die Uruschge verseuchten Fluten springen, um eine andere Welt zu suchen, und der Fürstin nicht Bescheid geben! « Die Entrüstung des Schanchoyi flaute nicht ab.
» Du wirst ihr Bescheid geben, falls ich … länger fort bin als ein paar Sekunden. «
Perjanu blickte ihn entsetzt an.
» Du hältst mich für mutiger als ich bin, mein Fürst. «
Esteron schmunzelte.
» Jagt sie dir eine solche Angst ein, meine kleine Frau? «
» Deine ›kleine Frau‹ ist ein Einhorn, mit dem man sich besser nicht anlegt. Klein, aber – o Talunys! «
» Ich danke dir für die Hochachtung, die du meiner Gattin entgegenbringst. Ich schätze sie auch sehr. «
Perjanu atmete tief durch. Esteron hatte das Talent, Gespräche, die er nicht führen wollte, in eine andere Richtung zu lenken. Doch der Schanchoyi hatte keine Lust, weiter über die Vorzüge der Fürstin zu debattieren.
» Mein Fürst und alter Freund, ich wäre dir ein schlechter Ratgeber, wenn ich dir nicht klarmachen würde, dass dies keine gute Idee ist. Es ist gefährlich und mit ziemlicher Sicherheit zudem zwecklos. Wir wissen viel zu wenig. Du bist der Hra. Du kannst nicht einfach auf gut Glück irgendwohin verschwinden – auch wenn die Führung des Reiches derzeit bei Enygme liegt. Du musst da sein. Deine Präsenz ist wichtig. Sie hält das Volk zusammen. Das ist unerlässlich in diesen Zeiten. «
Esteron nickte.
» Ich weiß « , sagte er. » Aber Kanura ist verschwunden. Und Eryennis auch. Es verwundert mich ein wenig, dass Hre-Hyron nicht hier mit uns zusammen steht und darüber nachsinnt, wie er seine Tochter finden kann. Er kann sie doch nicht schon verloren gegeben haben. «
» Vielleicht ist es
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