Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

manövriert.
    Panisch krallten sich ihre Finger auf der Suche nach Halt in den Fels, rutschten ab, bekamen seine Hand zu fassen. Er packte zu und zog. Seine Kraft war unglaublich. Mit einem Ruck lag sie keuchend wieder neben ihm, spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging, fühlte seinen nackten Oberkörper ausgerechnet an ihrer Stirn.
    » Ich lasse dich jetzt los. Bitte rutsch nicht wieder zum Abgrund, Una! « Kanura klang ernst. Die Hand, die die ihre eben noch umklammert gehalten hatte, verschwand. Dann war es ganz still. Sie hörte ihn atmen. Sie hörte auch ihr eigenes Keuchen. Sie war sich sicher, dass ihr Herzklopfen von den Höhlenwänden widerhallte. Und sein Herz – sein Herz konnte sie an ihrer Stirn spüren.
    » Ich beginne zu begreifen « , sagte er jetzt. » Du hast fürchterliche Angst vor mir, weil du mich für einen Mörder hältst. «
    Sie erwiderte nichts darauf.
    » Tatsächlich habe ich heute getötet « , fuhr er fort. » Uruschge. Kein Pferd, keine Menschen. Ich töte doch keine Menschen! «
    Wieder sagte sie nichts.
    » Ich werde dir nichts tun, Una. Du kannst mir glauben. «
    Oder auch nicht, dachte Una.
    » Vielleicht war es falsch, dich mitzunehmen. Es war unüberlegt und viel zu impulsiv. Das sind Eigenschaften, die man mir gemeinhin vorwirft, Eigenschaften, die bei meiner Art als … nicht erstrebenswert … gelten. «
    Er schwieg eine Weile.
    » Aber ich habe es gut gemeint « , fügte er dann hinzu.
    Gut gemeint, aber schlecht gemacht, dachte Una, sagte aber nichts. Sie wollte seinen Redefluss nicht unterbrechen.
    » Wir werden über Nacht hierbleiben. Vielleicht ist es sicherer als draußen, obgleich du mir noch erzählen musst, wer dich hierhergelockt hat. Aber ich muss mich ausruhen. Das alles ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich habe ziemliche Schmerzen. « Er atmete zischend aus. » Meine Ma…, äh … meine Fähigkeiten sind eingeschränkt. «
    » Tut mir leid « , murmelte sie verlegen.
    » Du solltest versuchen zu schlafen. Morgen müssen wir nach Kerr-Dywwen. Und ich weiß nicht, wie viele Feinde uns auflauern werden. «
    » Feinde « , wiederholte sie tonlos.
    » Uruschge « , gab er zur Antwort. » Wasserpferde. Ich glaube, die Menschen nennen sie Kelpies. «
    » Kelpies? Das sind Märchenwesen. « Was für einen Unsinn erzählte er da?
    » Hier in Talunys ist vieles anders, Una. Und deine Märchen haben ihren Ursprung nicht alle im Nichts. Legenden sind die Schlüssel zum Wissen um die Wahrheit. Die Erinnerung an sie prägt uns. «
    » Menschenfressende Wasserungeheuer? « , fragte sie, plötzlich zu müde, um richtig spöttisch zu klingen. » Und vor denen willst du mich beschützen? « Sie war einem Geistesgestörten in die Hände gefallen. Das war nun nicht neu, doch die Ausrichtung seines Wahns wurde immer abstruser.
    » Es herrscht Krieg « , sagte er nur. » Lange war Frieden. Jetzt herrscht Krieg. «
    Und Krieg hob alle Regeln auf. Gab es eine Genfer Konvention für Irre mit Märchenwahn? Und warum musste der bestaussehendste Typ, dem sie je nahegekommen war, ausgerechnet ein Irrer sein?
    » Wenn wir nicht aufpassen, werden wir sterben « , fuhr er düster fort.
    Sie erwiderte nichts. Es gab nichts Vernünftiges, was sie dazu hätte sagen können.
    Nun hatte er sie doch in den Arm genommen. Sie wehrte sich nicht mehr, aus Angst, wieder in den Abgrund zu rutschen, und aus Angst, was er tun würde, wenn sie ihm noch mal wehtat.
    » Heute haben die Uruschge meinen Vater umgebracht, und ich konnte nichts dagegen tun. Gar nichts. « Er klang verzweifelt.
    Sie spürte eine Berührung an ihrem Kopf und begriff, dass er sein Gesicht in ihre Locken drückte. Weinte er etwa? Ihr geistesgestörter Pferdekiller war sensibel. Vermutlich machte das alles noch schlimmer.

Kapitel 28
    Der kleine Fluss hieß Yssen und lief mitten durch Kerr-Dywwen. Er speiste ein System von Wasserleitungen und Springbrunnen, Technik, die von den menschlichen Traumwerkern gebaut worden war. Breit war der Wasserlauf nicht, aber etwa brusttief mit einer starken Strömung. Erst viele Meilen weiter östlich in Richtung Meer wurde das Flüsschen breiter und flacher und war nicht mehr so wild. Es gab auch Brunnen in Kerr-Dywwen. Überhaupt, es fehlte nicht an Wasser. Doch die Yssen dominierte das Gelände rund um den Hof, durchschnitt die Gärten und Weiden, die Anlagen und offen angelegten Laubwälder, die dazu gehörten.
    Jetzt freilich war die Yssen zu einer Gefahr geworden, und an