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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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waren sich für einen Moment so unendlich nah gewesen. Wenn sie auch nur ein wenig weiter gedacht hätte, wäre sie besser sofort getürmt, denn dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen war, hätte ihr klar sein müssen. Doch es hatte sie auch fasziniert. Er hatte sie fasziniert – seine Kraft, seine Schönheit, seine seltsame Würde. Dann aber war jedes weitere Gefühl in diese Richtung im Angriff des Uruschge und im Wasser der Quelle untergegangen.
    Kanura fasste sich vorsichtig an die Schläfe. Una war schon aufgefallen, dass er dort einen größeren Leberfleck hatte, der eine tiefe, schorfige Schramme aufwies.
    » Ich weiß nicht, was ich noch kann « , sagte er resigniert. » Ich bin verletzt. Sie haben mein Horn gestohlen. Ich bin … ich weiß nicht, was ich jetzt genau bin. Und ich weiß nicht, was ich noch auszurichten vermag. Vielleicht nichts mehr. Ich fühle nur Leere. «
    » Du bist Kanura « , sagte sie. » Von den Ra-Yurich – was immer das heißt. Und du wirst nicht rausfinden, was du kannst, wenn du es nicht versuchst. «
    Die großen braunen Augen sahen sie bitter an.
    » Jetzt hältst du mich für feige « , konstatierte er.
    » Nein. Nicht für feige. Für defätistisch. Ich finde, du solltest nicht aufgeben. Du bist ein riesiges Einhorn, verdammt noch mal! Und wir können nicht einfach hier hocken bleiben und warten, was passiert. Ob man uns umbringt oder hier verschimmeln lässt. « Sie klang mutiger, als sie sich fühlte.
    Er lächelte ganz leicht.
    » Hast du einen Vorschlag, was wir tun können? « Es klang nicht zynisch. Allerdings war es auch nicht sonderlich ermutigend, dass er sie fragte. Was wusste sie schon?
    » Ich singe dir ein Lied « , sagte sie schließlich. » Es ist nur für dich. Als ich es geschrieben habe, dachte ich, es wäre für mich. Manchmal tue ich das, schreibe Lieder, die nie jemand hört, weil ich sie niemals jemandem vorsinge. Weil sie nicht clever sind und nicht hipp, nicht geschliffen und nicht dem Zeitgeschmack angepasst. Geheime Lieder direkt aus meinem Seelenchaos. «
    Sie holte tief Luft und merkte, wie sie schon vorher rot anlief. Seelenchaos-Lieder waren kitschig und immer ein bisschen peinlich. Deshalb behielt sie sie ja für sich. Aber dies war nicht ihre Clique , und sie musste nicht cool sein. Sie musste überleben.
    Sie konzentrierte sich und begann etwas schüchtern zu singen:
    » Fass dir ein Herz,
    bezwinge den Schmerz,
    denke daran,
    wie es sein kann.
    Schreib hinter die Ohren dir,
    nichts ist verloren hier,
    lässt den Verlust du nicht zu. «
    Nach der letzten Zeile sah sie ihn unsicher an, erwartete, dass er sich über sie lustig machen würde. Doch das tat er nicht.
    » Du warst traurig und wütend, als du das geschrieben hast « , stellte er fest. Eine Weile schien er mit sich zu kämpfen. Dann nickte er ihr zu. » Sing es noch einmal. Und diesmal solltest du versuchen, es selbst zu glauben, während du es singst. «
    » Noch mal? Vielleicht sollte ich doch lieber eine alte Ballade … «
    » Nein. Sing es noch mal. « Er nahm ihr Gesicht in seine großen Hände. » Schau mich an. Nein! Zuck nicht zurück. Wer so wagemutige Lieder schreibt, der sollte keine Angst davor haben, einem verkrüppelten Einhorn in die Augen zu sehen. Sing! «
    Fast hatte sie wieder Angst vor ihm. Seine Intensität brach den Abstand zwischen ihnen auf. In seinen Augen lag eine verzweifelte Wildheit, die sie so noch nicht gesehen hatte.
    » Sing! « , wiederholte er scharf. Fürstensohn, dachte sie. Er konnte tatsächlich Befehle erteilen.
    Sie sang. Sie legte ihre Seele in die Melodie und Bedeutung in jedes einzelne Wort. Mit einem Mal schien das Lied länger. Jedes Wort bekam einen ganz eigenen Klang, vibrierte in ihr, tönte fast schmerzhaft in ihren eigenen Ohren. Seine Augen waren riesig, erfüllten ihre ganze Seele. Seine Hände auf ihrer Haut lagen dort mit der selbstverständlichen Besitznahme eines Liebhabers. Una mochte sie da, wo sie waren. Sehr. Zu sehr. Und diese Augen. Diese unbeschreiblichen Augen.
    » Noch mal! «
    Noch mal. Es war unglaublich, wie viel Kraft die sieben Zeilen kosteten. Nur sieben Zeilen, aber sie waren wie ein Hürdenlauf, als müsste Una jede einzelne Silbe bezwingen. Sie nahm kaum wahr, wie sehr ihre Stimme von den Wänden des Kellerraumes hallte, wie sehr das Echo sich mit dem Klang verband, der aus ihr hervorbrach.
    Dann hörte sie seine Stimme, die in einem gegenläufigen Echo mit ihrer sang – tief, intensiv und fordernd. Er

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