Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
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Eine Hörung ohne Schanchoyi, denn tatsächlich war nicht einer der Gelehrten Teil des Trupps, den Enygme anführte. Das Wissen der Gelehrten war Enygmes Ansicht nach zu wichtig, als dass man es im Kampf aufs Spiel setzen sollte. Alle Schanchoyi, die alten sowie die, die gerade erst angefangen hatten, die Weisheit der Tyrrfholyn in ihren Liedern und Legenden zu verinnerlichen, waren gehalten, in Kerr-Dywwen nach Antworten zu suchen. Die menschlichen Archivare halfen dabei.
Doch es ging nicht nur darum, die Erinnerungen sowie Bücher in Kerr-Dywwen zu durchsuchen. Die Schanchoyi wurden in Kerr-Dywwen gebraucht, um den Überblick zu bewahren. Die Residenz der Einhörner war Veränderungen unterworfen. Stetig trafen Einhörner und Menschen von weiter entfernten Siedlungen ein, weil sie sich in Kerr-Dywwen sicherer fühlten. Andere Schlossbewohner wiederum reisten zu ihren Familien in weiter entfernte Teile Talunys’, um ihnen vor Ort beizustehen.
Der Kampftrupp musste somit ohne Unterstützung der Weisen an der Yssen auskommen, und Enygme wusste, was das bedeutete. Sicherer, als sie sich innerlich fühlte, befahl sie, die Gruppe möge sich aufteilen und im Kreis aufstellen. Die eine Hälfte, deren Hörner nach außen gerichtet waren, sollte einen Schutzring um die anderen bilden. Die innen Stehenden deuteten mit dem Horn zum Kreismittelpunkt und versenkten sich in das Ziel ihrer Gedanken.
Enygme begann, tief zu summen. Dies war im Grunde Aufgabe eines Schanchoyi, doch jeder Tyrrfholyn lernte die Grundregeln der Hörung. Die anderen Einhörner des inneren Kreises stimmten einer nach dem anderen in den vielstimmigen Chor ein. Ihre Hörner waren weiterhin waagerecht auf die Mitte gerichtet. Als der Klang sich nach und nach hob, hoben sich auch die Hörner in einer gleichförmig fließenden Bewegung nach oben. Langsam, ganz langsam bewegten sich die Tyrrfholyn nun auf den Mittelpunkt des Kreises zu, kaum nahm man ihre Schritte wahr, und doch kamen sich die Spitzen der Hörner immer näher.
Höher und höher schraubten sich die Töne, zerflossen zu einem Klang aus Stille, der in sich so vollkommen war, dass er selbst eine Musik darstellte, eine des Schweigens und des Fühlens.
Enygme hielt die Gemeinschaft mit ihren Gedanken. Es fühlte sich an, als hätten sich die Einhörner die Hände gereicht und hielten sie so fest ineinander verschlungen, als würden sie sich nie wieder lösen wollen.
Keiner blickte in die Mitte, um zu sehen, ob die Hörner sich verfehlen oder treffen würden. Der Blick war aufs Innere gerichtet. Gleich, dachte Enygme, die oft genug bei einer Hörung dabei gewesen war. Gleich würde sich die Erkenntnis öffnen wie ein Fenster, und die Helligkeit des Verstehens würde sie erleuchten. Eine Hörung vermittelte kein Allwissen, es brachte nur Fragmente in Einklang, schuf aus Eindrücken, Ahnungen und Wissensfetzen ein Mosaik von Einsichten, dessen Gesamtbild immer größer war als die Teile, die jene beisteuerten, die an der Hörung beteiligt waren. Dieses Bild konnte klar oder unfertig sein, brachte jedoch stets etwas Neues.
Die Vorfreude auf den Moment des Strahlens beflügelte Enygmes Denken. Nicht eilen, sagte sie sich. Jede Hast war dem Begreifen abträglich. Also Geduld. Doch Geduld war unter den gegebenen Umständen so schwierig wie Sanftmut oder Weisheit, wenn man wusste, dass einen ein tödlicher Feind bedrohte. Den ganzen Rücken entlang spürte Enygme das Kribbeln der Anspannung. Nun macht schon, wollte sie ihrer Truppe zurufen, doch sie machten nichts falsch, und ihr Eingreifen würde alles verderben.
Enygme wusste, dass die höchste Stufe der Erkenntnis ohne inneren Frieden schwer zu erreichen war. Doch wo sollte sie ihn hernehmen, diesen Frieden, wenn es so aussah, als hätte sie alles verloren, was sie liebte? Nun, vielleicht nicht alles, aber doch das, was ihr am wichtigsten war: ihren Gefährten und ihr Kind.
Sie sehnte sich nach Klarheit, nach Antworten und einer Lösung.
In diesem Augenblick berührten sich die Hornspitzen, alle zur gleichen Zeit. Enygme erwartete das Weiß der Weisheit, das helle Leuchten der Einsicht.
Die Welt wurde schwarz.
Als ob die Nacht vom Himmel gefallen wäre wie eine Aschelawine, so standen sie da, reglos und blind in der Dunkelheit. In das klangvolle Schweigen mischte sich Entsetzen. Enygme hielt mit all ihrer Willenskraft die Gemeinschaft des inneren Kreises zusammen, obgleich sie am liebsten zurückgezuckt wäre.
Sie tat es nicht, konnte
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