Die Rache
musste den Jungen in Sicherheit bringen, bevor er den Verstand verlor.
»Komm schon, Artemis. Nur noch ein paar Sprossen. Das schaffen wir.«
Artemis schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, funkelte in ihnen neue Entschlossenheit. »In Ordnung, Captain. Ich bin bereit.«
Er streckte die Hand aus und zog sich eine Sprosse näher an seine Rettung. Holly folgte ihm und drängte ihn vorwärts wie ein Sergeant bei einer Feldübung.
Es dauerte eine weitere Minute, bis sie das Dach erreicht hatten. In der Zwischenzeit hatten die Trolle sich wieder daran erinnert, was ihr eigentliches Ziel war, und ebenfalls begonnen, das Gerüst zu erklimmen. Holly zerrte Artemis auf das schräg ansteigende Dach, und auf allen vieren krochen sie bis zum höchsten Punkt. Es war aus Gips, weiß und glatt. In dem dämmrigen Licht sah es so aus, als bewegten sie sich über ein verschneites Feld.
Artemis hielt inne. Der Anblick setzte etwas in seinem Unterbewusstsein in Bewegung. »Schnee«, sagte er unsicher. »Ich erinnere mich an etwas...«
Holly packte ihn an der Schulter und zog ihn vorwärts. »Ja, Artemis, wir waren in der Arktis. Aber darüber können wir später noch ausgiebig reden, wenn wir keine Trolle im Nacken haben, die uns fressen wollen.«
Mit einem Ruck kehrte Artemis in die Gegenwart zurück. »In Ordnung. Kluge Taktik.«
Das Tempeldach stieg in einem 40-Grad-Winkel an und führte genau auf die unechte Kristallsonne zu. Die beiden krochen so schnell, wie Artemis' erschöpfte Glieder es erlaubten. Hinter ihnen zog sich eine Zickzackspur aus Blut über den weißen Gips. Das Gerüst krachte und bebte unter dem Ansturm der Trolle.
Holly schwang sich rittlings auf den First und griff mit ausgestreckten Armen nach der Kristallsonne. Die Oberfläche fühlte sich glatt an.
» D'Arvit! «, fluchte sie. »Ich kann den Anschluss nicht finden. Normalerweise müsste irgendwo eine Buchse sein.«
Artemis kroch zur anderen Seite herum. Obwohl er nicht unter Höhenangst litt, bemühte er sich, nicht nach unten zu sehen. Man musste nicht besonders zart besaitet sein, um angesichts eines gut fünfzehn Meter tiefen Abgrunds und einer Horde ausgehungerter Trolle nervös zu werden. Er reckte sich und befühlte die Kristallkugel mit einer Hand. Sein Zeigefinger ertastete einen schmalen Schlitz.
»Hier ist etwas«, verkündete er.
Holly wechselte die Seite und überprüfte den Schlitz.
»Gut«, sagte sie. »Eine externe Buchse. Unsere Akkus haben Universalstecker, also müssten die aus den Handschellen passen.«
Sie löste die Handschellen von ihrem Gürtel und klappte die Deckel der Akkufächer auf. Die Akkus selbst waren etwa so groß wie Kreditkarten und hatten einen blauen Leuchtstreifen auf der Längsseite.
Holly stellte sich auf den rasiermesserschmalen First und balancierte geschickt auf den Zehenspitzen. Die Trolle hatten inzwischen die Dachkante erreicht und rückten näher wie ein Rudel Höllenhunde. Das weiße Gipsdach verschwand unter dem Schwarz, Braun und Gelb der Trollfelle. Ihr Geheul und Gestank war betäubend, als sie Holly und Artemis einkreisten.
Holly wartete, bis alle auf dem Dach waren, dann schob sie die Akkus in den Schlitz. Die Kristallkugel begann zu summen und zu vibrieren, dann schoss sie einen Blitz ab. Eine blendende Wand aus Licht. Für einen kurzen Moment leuchtete das gesamte Ausstellungsgebiet grell weiß auf, dann verlosch die Kugel mit einem sirrenden Ton.
Die Trolle rollten wie Kugeln auf einem schräg stehenden Billardtisch. Ein paar fielen über den Rand, doch die meisten blieben an der Traufe hängen, wo sie wimmernd liegen blieben, die Pfoten aufs Gesicht gepresst.
Artemis schloss die Augen, um sie schneller wieder an das Dämmerlicht zu gewöhnen. »Ich hatte gehofft, die Akkus würden die Sonne länger aufleuchten lassen. Ziemlich viel Aufwand für so eine kurze Gnadenfrist.«
Holly nahm die verbrauchten Akkus heraus und warf sie weg.
»Ich schätze, so eine Kristallsonne braucht eine Menge Saft.« Artemis blinzelte, dann setzte er sich so bequem, wie es ging, auf das Dach und schlang die Arme um die Knie. »Immerhin haben wir noch ein bisschen Zeit. Nachttiere brauchen nach einer Konfrontation mit hellem Licht bis zu fünfzehn Minuten, um ihre Orientierung wieder zu finden.«
Holly setzte sich neben ihn. »Was du nicht sagst. Du bist plötzlich so ruhig.«
»Mir bleibt nichts anderes übrig«, erwiderte Artemis schlicht. »Ich habe die
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