Die Rache der Engel
Schnee.
Ich lag auf dem Rücken, im Freien, unter einer dichten grauen Wolkendecke. Ich war außerstande, mich zu entscheiden, ob ich mich bewegen oder liegen bleiben sollte. Aus irgendeinem Grund reichte meine Kraft nicht einmal zum Nachdenken. Meine Gedanken kreisten um ein merkwürdiges Traumbild: Ich glaubte gesehen zu haben, wie die Jakobsleiter auf die Erde herabgelassen wurde. Die Vorstellung war einfach idiotisch. Völlig deplatziert. Aber ärgerlicherweise erschien genau dieses Bild immer wieder vor meinen Augen. Schließlich fiel mir die Passage aus der Genesis ein, die eine ähnliche Begebenheit erzählt. Die Geschichte, in der der Patriarch Jakob eine Leiter erblickte, auf der Lichtgestalten auf- und abstiegen, bevor Gottes Stimme ihm verkündete, dass seine Nachkommen sich über die gesamte Erde verbreiten würden. Ich kannte diese Bibelstelle sehr gut, denn zahlreiche Kirchenwerke und literarische Darstellungen haben diesen Moment festgehalten. Ich wusste zwar nicht, warum gerade diese Vorstellung so heftig in meinem Inneren pochte, doch ich hatte den kuriosen Eindruck, genau diese Leiter vor mir gehabt zu haben.
Die wahre Leiter.
Und sogar die Engel, die auf ihr emporstiegen.
» Sie macht die Augen auf!«
Eine vertraute Stimme neben mir jubelte, sobald ich ein wenig blinzelte.
» Julia! Meine Güte! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ellen Watson beugte sich über mich. Sie war so vermummt mit einer grauen Wollmütze und einem Schal, dass sie fast nicht zu erkennen war. Wir befanden uns unter freiem Himmel, außerhalb des Gletschers. Aber dieser Umstand verwirrte mich weitaus weniger als die Anwesenheit des Mannes, der hinter ihr stand und den ich nicht zuordnen konnte. Die Eiseskälte hatte seine Nasenspitze dunkelrot gefärbt und seine Gesichtshaut war an Wangen, Lippen und Kinn eingerissen. Er wirkte jung und verströmte eine gewisse Eleganz, die aber schwand, sobald er ein Handy ans Ohr führte und sich nicht mehr für mich interessierte.
» Das ist Tom Jenkins«, stellte Ellen den Mann vor. » Er ist ein Kollege von mir und arbeitet auch für den amerikanischen Präsidenten. Wir versuchen gerade per Telefon unsere Koordinaten zu übermitteln, damit man uns hier rausholt. Doch der Sonnensturm hat offenbar mehrere Satelliten außer Gefecht gesetzt und es kostet uns ziemliche Mühe, eine Verbindung…«
» Sonnensturm? Was für ein Sturm?«, stammelte ich und versuchte mich aufzurichten. Ich spürte, dass mich keine Gurte mehr hinderten.
» Bitte, bewegen Sie sich nicht«, forderte Ellen mich auf, indem sie eine Hand auf meinen Brustkorb legte. Ihre Geste beunruhigte mich. » Wir wissen noch nicht, ob Sie Verletzungen erlitten haben.«
» Was für Verletzungen?«
Ellen nickte.
» Sie können sich an nichts erinnern, oder?«
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf.
» Nicholas Allen…« Die Amerikanerin sprach den Namen aus, als würde sie sich die Zunge dabei verbrennen. » Wissen Sie, wer das ist?«
» Natürlich… Ich habe ihn in Santiago kennengelernt. Ich war mit ihm in dem Café, als Artemi Dujok und seine Männer mich entführten.«
» Er hat Sie hier aus dem Gletscher herausgeholt. Vor etwa einer Stunde ist der Gletscher wegen eines Erdbebens in sich zusammengebrochen, aber Allen hat es geschafft, Sie gerade noch rechtzeitig zum Eingangstunnel zu schieben. Sie haben Glück, dieser Mann hat wirklich keine Angst vor dem Tod…«
» Haben Sie gerade Erdbeben gesagt?«
» Ja, ein gewaltiges Erdbeben«, bestätigte Ellen. » Wir denken, es hat mit der Veränderung des Magnetfeldes zu tun, die Ihre Adamanten ausgelöst haben und die durch den Protonensturm nach der Sonneneruption noch verstärkt wurde… Diese Veränderung hat auch unsere Satelliten außer Gefecht gesetzt.«
Ich hörte zu, ohne ein Wort zu verstehen.
» Was ist denn mit den Steinen?«
» Sie sind im Gletscher verschwunden.«
» Und was ist mit der Arche?«
» Die auch.«
Ich wagte kaum, die nächste Frage zu stellen.
» Und… Martin?«
Ellen reagierte, wie ich es am meisten befürchtet hatte. Sie wandte ihren strahlenden Blick von mir ab, als müsste sie die nächsten Worte mit Bedacht wählen.
» Vor der Lawine hat sich in der Höhle ein merkwürdiges Ereignis zugetragen…«, begann sie zögerlich. » Die Steine korrespondierten mit einer merkwürdigen Kraft. Eine Art Wolke, die vom Himmel kam, senkte sich auf die Stelle, an der wir alle uns aufhielten und…«
» Was ist mit Martin?«, war meine
Weitere Kostenlose Bücher