Die Rache der Engel
zu Boden, kugelte willenlos einige Meter weiter und geriet gefährlich nah an die elektrisierte Gestalt von William Faber. Der alte Mann, der nichts von allem mitbekam, stand immer noch aufrecht, fest mit dem Boden verbunden.
Doch Tom Jenkins traf es am schlimmsten.
Nachdem sein Körper das Gleichgewicht verloren hatte, schlug er mit dem Gesicht gegen die Metallkante eines Tischs. Der süßliche Geschmack von Blut erfüllte seinen Mund. Aber er hatte keine Zeit sich deshalb Sorgen zu machen, denn nun merkte er, dass das Eisgewölbe, das diesen Ort schützte, Risse bekam, woraufhin erneut eine Salve von Eissplittern auf ihre Köpfe niederging.
Und dann sah er es:
Eine Art phosphoreszierender Vorhang begann sich wie ein Wasserfall über sie zu ergießen. Das waren aber keine Eisgeschosse mehr. Und auch kein Schnee. Es gab keine Worte dafür. Dieses Etwas war zart, ohne erkennbare Ränder. Ein unendliches, seidiges, ätherisches Tuch, das offenbar durch einen vom Himmel projizierten Strahl erzeugt wurde. Trotz seines fragilen Aussehens schien jenes Etwas aus festen Teilen zu bestehen, einer Art Sprossen, die in einer größeren Konstruktion verankert waren. Etwas, was sich in sich selbst zusammenfalten oder aber hin und her wiegen konnte.
Bevor Colonel Allen und die Präsidentenberater reagieren konnten, begann diese Membran, sich durch den Raum zu bewegen, auf die von den elektrischen » Spinnen« umhüllten Gestalten zu. Was für ein Schauspiel! Sie glitt über deren Körper hinweg, und durch sie hindurch konnte man weiterhin den dunklen Rumpf der Arche erkennen, den heiligen Tisch, den riesigen erloschenen Fernsehbildschirm… Aber nicht mehr die Gestalten selbst, die offenbar nach und nach von ihr verschlungen wurden:
Als Erster verschwand William Faber.
Danach sein Sohn.
Dann der Mann mit dem imposanten Schnauzbart und ebenso der junge Kämpfer mit dem Schlangentattoo auf der Wange. Danach der Hubschrauberpilot und schließlich der Riese mit dem rotblonden Haar samt seiner außergewöhnlichen Gefährtin.
Und zuletzt, als hätte er sich das Beste für zuletzt aufgehoben, bewegte sich der Schleier mit unverkennbarer Entschlossenheit auf Julia zu.
» Die Steine!«, brüllte Tom, als er sah, wie sich das Ding in Richtung der Liege bewegte.
Für den Colonel waren Toms Worte wie ein Schlag in die Magengrube. Er stand auf, richtete das M 16 gen Himmel und entlud einen Bleiregen gegen das Ding.
Mit ungeahnten Folgen:
Der Vorhang bebte, als könnte er den Einschlag des glühenden Metalls spüren. Dann weitete er sich aus– nur um sich gleich darauf immer fester in sich zusammenzuziehen, woraufhin erneut eine gewaltige Druckwelle den Gletscher erschütterte und einen Teil der Eiswände zum Einstürzen brachte.
» Alles stürzt ein«, schrie Allen.
» Raus hier!«, brüllte Tom und packte Ellen.
» Sie müssen zu Julia, Colonel! Holen Sie sie bitte! Um Gottes willen!«
Julia Álvarez lag immer noch bewusstlos festgebunden auf der Pritsche. Ihr gegenüber, herausfordernd wie ein Raubtier, hatte die Wand der Arche ihren Schlund geöffnet und ließ ein düsteres und eisiges Inneres erahnen. Allen sah lieber nicht hinein. Wenn der versteinerte Rumpf des Schiffs auf die Frau stürzte, würde er den ersten Menschen verlieren, von dem er wusste, dass er den Adamanten beherrschen konnte. Das würde ihm Michael Owen niemals verzeihen.
Ohne nachzudenken stürzte er zu ihr. Er musste Julia retten.
99
Die Kälte machte mich hellwach. Eine schneidende, trockene Kälte kroch in meine Hände und breitete sich allmählich in meinem gesamten Körper aus. Dieses unangenehme Gefühl riss mich aus dem seligen Zustand, in dem ich bis dahin vor mich hin gedämmert hatte. Auf ein erstes Frösteln folgten die unangenehme Wahrnehmung meiner feuchten Haare sowie die Gewissheit, dass ich erfrieren würde, wenn ich nicht bald in Sicherheit käme.
Als reichte das nicht, griff der matte Schein des Tageslichts meine Augen an, die sich auf einmal wie ausgetrocknet anfühlten.
›Wo bin ich?‹
Meine letzte Erinnerung bestand darin, dass ich unter Martins zärtlichem Blick an eine Pritsche gefesselt gewesen war und seine Aufforderung gehört hatte, dass ich mich entspannen solle. Anscheinend hatte ich mit den Steinen in den Händen das Bewusstsein verloren.
›Die Steine!‹
Unwillkürlich ballte ich auf der Suche nach ihnen die Hände zusammen. Doch sie waren nicht mehr da. Das Einzige, was meine Finger umklammerten, war
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