Die Rache der Jagerin
lautes Klopfen an der Tür vertrieb diese Wärme mit einem Mal. Wir schauten auf. Doch es geschah nichts. Offenbar wartete man auf die Erlaubnis, einzutreten, deshalb sagte ich: »Herein.«
In weite blaue Jeans und ein braunes T-Shirt gekleidet, trat Michael Jenner ins Zimmer. An den Füßen trug er lediglich ein Paar weiße Socken. In dieser legeren Aufmachung erkannte ich den verklemmten Anwalt, den ich bereits zweimal getroffen hatte, kaum wieder. Er lächelte sogar und wirkte dadurch zehn Jahre jünger.
»Miss Stone«, begrüßte er mich. »Sie sehen wiederhergestellt aus.«
»Fast zu hundert Prozent.« Noch immer saß ich Schulter an Schulter mit Wyatt, und es war offensichtlich, wobei er uns eben unterbrochen hatte. Auch Wyatt rührte sich nicht von der Stelle und zeigte sich nicht beschämt darüber, ertappt worden zu sein. Vielmehr rückte er eher noch ein wenig näher, als würde er mich verteidigen wollen. Anscheinend traute er Jenner nicht über den Weg.
»Was man über Ihre Heilkräfte sagt, ist also nicht übertrieben.«
»Ja, die sind manchmal ganz praktisch.« Ich räusperte mich. »Danke, Mr. Jenner. Für all das.«
Er nickte. »Ich mag es nicht gezeigt haben, weil es mir nicht zusteht, die Zusammenkunft zu beeinflussen, aber ich habe Ihnen geglaubt. Ich glaube Ihnen immer noch. Ich hoffe nur, dass Ihnen die Zuhörer heute Abend ebenfalls wohlwollend gestimmt sind.«
»Die Zuhörer heute Abend?« In Erwartung seiner Antwort beschleunigte sich mein Puls.
»Die Zusammenkunft der Clanältesten hat Sie vorgeladen, damit Sie Ihr Anliegen selbst vortragen.«
Ich wäre beinahe aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen. Das kam mir aber vage unpassend vor, und deshalb blieb ich sitzen. »Wann?«
»In einer Stunde. Ich fahre Sie hin.«
Mit einem Satz war ich auf den Beinen und spürte einen winzigen Nadelstich in meinem Knie. »Weiß Phin darüber Bescheid?«
»Ich habe eben erst den Anruf erhalten, und Phineas wird anderswo gebraucht. Seine Meinung wurde bereits zur Kenntnis genommen, und da er der Zusammenkunft nicht beiwohnen kann, werde ich in seinem Namen sprechen.«
»Glauben Sie, dass ich sie überzeugen kann?« Großer Gott, zweifelte ich etwa selbst an mir? In Jenners Gegenwart? Wartete ich etwa auf seinen Zuspruch?
»Sie sprechen sehr leidenschaftlich, Evangeline. Und wie die Menschen werden auch die Therianer von Gefühlen geleitet. Wir sind uns ähnlicher, als Sie glauben.«
Allmählich wurde mir das und noch viel mehr klar. Darum verstand ich nun auch, weshalb die Therianer für andere Völker eine Bedrohung darstellten. Sie waren zahlreicher als die Vampire und die Kobolde und besaßen individuellere Persönlichkeiten. Gleichzeitig hatten sie weniger politische Macht als der Feenrat. Damit stellten sie ein schwer zu kontrollierendes Element dar. Da sie Menschen nur selten angriffen, wurden sie nicht von den Triaden gejagt. Darüber hinaus wussten wir so gut wie nichts über sie, wie ich innerhalb kürzester Zeit erfahren musste.
Sein Märchenrätsel hatte ich nicht vergessen, und da sich allenthalben Dankbarkeit und Zuversicht ausbreiteten, schien mir der rechte Augenblick gekommen, ihn danach zu fragen. Würde er mir eine Antwort geben? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht, wenn die Zusammenkunft zu meinen Gunsten abgestimmt hatte …
Peinliches Schweigen herrschte im Zimmer. Eigentlich war ich an der Reihe, etwas zu erwidern, aber ich schwebte gerade in einem Wolkenkuckucksheim. Deshalb sagte ich das Erste, das mir einfiel und das nichts mit dem Rätsel zu tun hatte: »Wenn ich dort hingehe, brauche ich etwas zum Anziehen.«
Jenner warf Wyatt einen Blick zu, woraufhin dieser aufstand und die Schublade einer Kommode öffnete. Darin fanden sich sorgfältig zusammengelegte Jeans, Tops … Sekunde mal.
»Das sind die Sachen, die ich aus meiner Wohnung mitgenommen habe«, stellte ich wie vom Donner gerührt fest. »Wie sind die hierher gekommen? Die Tasche habe ich im Treppenhaus der Fabrik zurückgelassen.«
»Phin hat sie letzte Nacht gefunden«, erklärte Wyatt. »Er ist noch einmal hingegangen, um nach Hinweisen auf den neuen Aufenthaltsort der Gremlins zu suchen. Damit hat er allerdings keinen Erfolg gehabt. Die Tasche mussten wir wegwerfen, weil sie gottserbärmlich gestunken hat. Aber die Kleider konnten wir waschen.«
»Was ist mit dem Foto und dem Laptop?«
Er zog eine weitere Schublade auf, aus der ein bitterer Geruch drang. Ich schaute hinein, und da lagen die beiden
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