Die Rache der Liebe
Vater hatte zwei rechtmäßige Gattinnen und drei Bettsklavinnen, und alle hatten sie ihm Kinder geschenkt. Bei seinem Tod zählte man zwanzig. Erika stand keinem ihrer Geschwister nah, außer ihrem leiblichen Bruder Ragnar. Ihrer beider Mutter war die zweite Gattin gewesen. Die erste Frau hatte dem alten Mann vier Töchter und drei Söhne geboren, alle beträchtlich älter als die übrigen Halbgeschwister.
Nach dem Tod des Vaters ging die Herrschaft über die dänischen Ländereien an den ältesten Sohn über. Er hatte selbst bereits drei Töchter, so dass ihm weit mehr daran lag, für diese passende Gatten zu finden, als für Erika oder seine andere, noch unverheiratete Halbschwester eine Heirat zu arrangieren. Und da überdies ein Großteil der jungen Männer das Gebiet verlassen hatte, um ihr Glück in der Ferne zu suchen, befürchtete Erika verständlicherweise, dass sie nie einen Ehemann oder ein eigenes Heim haben würde.
Aber ihr Bruder war einer jener Männer, die in der Ferne ihr Glück versuchten, und er war erfolgreich. Für Erika war es einer der glücklichsten Tage ihres Lebens, als er nach ihr schicken ließ, damit sie mit ihm in seinem neu eroberten Besitz in Ostanglia lebte. Sie hatte an ihr neues Leben kaum irgendwelche Erwartungen, sondern war lediglich glücklich, ihr überfülltes und von Intrigen und Eifersüchteleien durchtränktes Heim verlassen zu können, in dem sie sich nie wirklich willkommen oder gebraucht gefühlt hatte.
Ragnar hingegen ließ sie nun an seinem Reichtum teilhaben, erhob sie in den Stand einer Lady und übertrug ihr während seiner Abwesenheit die oberste Befehlsgewalt. Und auch die Heiratsaussichten waren nun keineswegs mehr hoffnungslos. Sie hatte bereits fünf Anträge von Ragnars Männern erhalten, allesamt stramme Wikinger, die Ragnar allerdings in Erikas Namen abgewiesen hatte. Er hegte für seine Schwester höhere Ambitionen - es sollte schon ein Lord mit einer stattlichen Anzahl von Gefolgsmännern sein. Ostanglia war ihre neue Heimat. Es war an der Zeit, ihre Position durch Heiratsverbindungen zu stärken. Und so war Ragnar auch gerade mit seinen Männern unterwegs, um für sie beide nach profitablen Eheverträgen Ausschau zu halten.
Eigentlich sollte Erika darüber jubeln. Er hatte ihr versprochen, dass sie mit seiner Wahl zufrieden sein würde, und das bezweifelte sie auch gar nicht, denn Ragnar wollte nur ihr Bestes. Das Problem war vielmehr, dass ihr eine Ehe nun nicht mehr, wie früher, als letzte Hoffnung erschien. Ihr Bruder hatte ihr so vieles gegeben - sie regelrecht verwöhnt -, dass sie mit ihrem derzeitigen Leben vollauf zufrieden war. Selbst ihr Kinderwunsch fand durch Ragnars Sohn Thurston, dessen Erziehung sie übernommen hatte, seine Erfüllung.
Sicher, im Grunde wollte sie nach wie vor einen Ehemann, hoffte nach wie vor auf die große Liebe und betete inständig, dieses Glück bei dem Mann, den Ragnar für sie aussuchen wollte, zu finden. Andererseits empfand sie ihr gegenwärtiges Leben als so angenehm, dass sie eine Veränderung fürchtete, weil sie dann womöglich nicht mehr so glücklich wäre wie jetzt.
Doch sie betrachtete ihre Ängste als normal, da sie sicher von den meisten Frauen, denen eine Hochzeit mit einem unbekannten Mann bevorstand, geteilt wurden. Sie bedauerte nur, dass sich ihr neues Leben, kaum hatte sie sich daran gewöhnt, schon wieder ändern sollte.
Allerdings war ihr auch klar, dass ihre Situation, wenn Ragnar wieder heiraten sollte, sowieso eine andere sein würde. Das war unvermeidlich. Wenn sie sich gegen eine Heirat entschied, wäre sie zwar für den Rest ihres Lebens in Ragnars Haus herzlich willkommen, aber sie wollte sich nicht noch einmal unnütz und überflüssig fühlen.
Deshalb hatte sie auch, als das Thema erstmals zur Sprache kam, nicht dagegen gesprochen oder um einen Aufschub von ein, zwei Jahren gebeten. Ragnar war der Meinung, er erfülle ihr einen langgehegten Herzenswunsch. Sie ließ ihn in dem Glauben. Aber sie war darüber nicht sehr glücklich. Am liebsten wäre es ihr, wenn alles so bliebe, wie es war. Erika ahnte freilich nicht, wie drastisch sich ihr Leben verändern sollte, und zwar sehr viel früher als erwartet.
5
Der Ochsenkarren ruckelte schwerfällig den Waldpfad entlang. An den Zügeln saß eine alte Frau mit schwieligen Händen und zotteligem weißen Haar. Neben dem Karren humpelte eine junge Frau, die nicht etwa hinkte, weil sie Schmerzen hatte, sondern deshalb, weil ein Bein
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