Die Rache der Liebe
schon von Geburt an kürzer als das andere war. Noch bevor sie auf die Leichen stießen, wehte ihnen schon der Gestank des Todes entgegen. Es war ein Geruch, den die alte Valda begrüßte und den ihre junge Nichte Blythe zwar verabscheute, aber im Laufe der Zeit zu ertragen gelernt hatte.
Sobald Valda die Leichen erspähte, lenkte sie den Karren an den Wegrand und sprang behende herunter. Für eine alte Frau erstaunlich wendig, huschte sie nun von einer Leiche zur nächsten, durchsuchte hier eine Tasche, drehte dort einen Toten um.
Bald darauf hörte Blythe sie grummeln: »Pfui, da waren bereits Leichenfledderer am Werk!«
Sie hätte besser andere Leichenfledderer sagen sollen, denn Valda bezog ihren und ihrer Nichte Lebensunterhalt aus den Hinterlassenschaften Toter. Die Kriege, die schon seit etlichen Jahren das Land verwüsteten, waren für sie und ihresgleichen ein wahrer Segen, denn sie brauchte nur den dänischen Heeren nachzufolgen. Und dank der Ausrede, sie suche nach ihrem Sohn, wurde sie auch von niemandem gehindert, wenn sie sich über die Leichen der Gefallenen hermachte und dabei einsteckte, was immer ihr in die Hände fiel, sei es nun eine Münze oder Schmuck oder anderes.
Doch was Valda gesagt hatte, war richtig: Die Toten waren bereits von anderen Leichenfledderern gefunden und beraubt worden. Sämtliche Stiefel fehlten, bis auf ein einziges durchlöchertes Paar, und auch alle Umhänge, das Leder, die Waffen, die Wollkleidung. Allein zwei Überröcke waren übriggeblieben, allerdings durch Schwerthiebe derart zerfetzt, dass sie nicht einmal für einen Leichenfledderer von Interesse waren. Die meisten Männer trugen noch ihre knielangen Hosen, doch die Beinpanzer hatte man weggenommen. Zwei Männer waren völlig nackt, selbst ihre Hosen schienen demnach als Beute erlesen genug gewesen zu sein. Wahrscheinlich handelte es sich bei den beiden um Lords.
Um dem Verwesungsgestank zu entkommen, hatte sich Blythe gegen den Wind gestellt und wartete geduldig auf ihre Tante. Valda war wütend, dass nichts für sie übriggeblieben war, und zerrte nun der einen Leiche den Überrock vom Leib. Später würde Blythe das Kleidungsstück waschen, flicken und auf dem Markt gegen ein heißes Mahl eintauschen.
Blythe empfand einen tiefen Ekel davor, Leichen anzufassen, und ihre Tante hatte auch nie darauf bestanden, dass sie ihr bei der Arbeit half, wofür sie sehr dankbar war. Als Gegenleistung erledigte Blythe den Verkauf ihrer jeweiligen Ausbeute oder bot sich, wenn die Zeiten schlecht waren, selbst zum Kauf an. Valda hatte sie aufgezogen, und ein anderes Leben als dieses kannte sie nicht. Doch Valda wurde älter und war es allmählich leid, sich tagsüber auf dem Ochsenkarren durchrütteln zu lassen und die Nächte auf der kalten Erde zu verbringen. Sie sehnte sich nach einem Dach über dem Kopf.
Ihre Hoffnung war nicht gänzlich aussichtslos, denn vor kurzem hatte Valda erfahren, dass die Gattin ihres Cousins gestorben war. Daher waren sie und Blythe nun auf dem Weg zu ihm nach Bedford. Als sie früher schon einmal im Hause ihres Cousins um Aufnahme gebeten hatte, war es Aldrichs Frau gewesen, die sich dagegen ausgesprochen hatte. Doch nun, da sie tot war, hoffte Valda, dass er Blythe heiraten und ihnen damit das so verzweifelt ersehnte Heim bieten würde. Auch Blythe hoffte, es würde so kommen, wie Valda vorhergesagt hatte. Aldrich war zwar sehr viel älter als sie, aber kein schlechter oder hässlicher Mann, und deshalb hätte sie gegen eine Heirat auch nichts einzuwenden. Außerdem hatte er sie, trotz ihrer Verkrüppelung, immer freundlich angeschaut. Und ein Heim und regelmäßige Mahlzeiten wären wundervoll, einfach wundervoll.
Während Blythe auf ihre Tante wartete, schweifte ihr Blick zu den Toten hinüber. Sie hasst e den Anblick von Leichen, hatte schon so viele gesehen, und dennoch wurden ihre Augen in einer Art morbider Faszination nach wie vor unweigerlich davon angezogen. Einer der Toten zog ihre Aufmerksamkeit wiederholt auf sich, und so schritt sie schließlich kurzentschlossen zu ihm.
Es handelte sich um einen der beiden Männer, die vollends entkleidet worden waren. Valda hatte ihn bereits umgedreht - unter leisem Fluchen und Knurren, weil er so riesig war - und seine Hände nach Ringen abgesucht. Er hatte sicher keinen Ring getragen, da keiner seiner Finger fehlte. Denn das war für einen Leichenfledderer die einfachste Art, einen Ring von angeschwollenen Fingern zu entfernen.
Der Mann
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