Die Rache der Liebe
zu üben. Und wer sie ausüben würde, war ihr mittlerweile auch klar.
»Dreh dich um, damit ich deine Füße fesseln kann, aber pass auf, dass du meinen Bruder nicht störst! «
Erika tat, wie ihr geheißen wurde, und pass te vor allem darauf auf, dass sie den Bruder nicht einmal anschauen muss te. Sie spürte seine Augen zwar nicht mehr auf sich ruhen, wollte aber auch nicht riskieren, ihn anzuschauen und womöglich zu sehen, wie er sich jetzt, da ihre Rollen vertauscht waren, an ihrer kläglichen Lage weidete.
Die Schuhe wurden ihr von den Füßen gezerrt, beiseite geworfen, und anschließend wurden ihre Knöchel fest zusammengebunden. Kristen hatte für die Fesseln den Saum ihres eigenen Gewandes abgeschnitten. Zumindest war es also kein derber Strick oder eine Kette - noch nicht.
Da man ihr nichts Gegenteiliges befohlen hatte, blieb Erika sitzen und rutschte zurück, bis sie sich an die Seitenwand des Wagens lehnen konnte. Aufmerksam beobachtete sie die Norwegerin, die sie ihrerseits völlig ignorierte, sich in ihre Ecke zurückzog und den Kopf des Bruders wieder auf ihren Schoß bettete.
Sie ist schön, wurde Erika bewußt, sogar sehr schön. Doch bei einem derart phantastisch aussehenden Bruder war das nicht weiter verwunderlich. Kristens Hände legten sich nun zart um sein Gesicht. Offenbar liebte sie ihren Bruder sehr. Auch Erika liebte ihren Bruder, und sie fragte sich, wie sie selbst an Kristens Stelle reagiert hätte. Sie wußte es nicht und hoffte auch, nie in solch eine Lage zu geraten.
Trotz ihres Sträubens wanderten ihre Augen nun doch zu Seligs Gesicht und blieben dort hängen. Als sie zuvor in seinen saugenden Blick getaumelt war, hatte sie nur seine Augen gesehen und den Hass , der darin glühte. Jetzt entdeckte sie in seinem Gesicht Spuren von Gram und tiefer Qual, die bei ihrer ersten Begegnung noch nicht vorhanden gewesen waren. War das von Turgeis erwähnte Fieber dafür verantwortlich?
Ihre Augen glitten über seinen Körper, der, wie Erika nun erstmals überrascht feststellte, nicht mehr mit einem Überrock bekleidet war, und verweilten dann bei der eingesunkenen Stelle zwischen seinen hervorstechenden Rippen und den auffällig hervorspringenden Hüftknochen. Falls er tatsächlich Fieber gehabt haben sollte, ein verzehrendes Fieber, wie Turgeis behauptet hatte, dann war er von Elfwina sicher mit abführenden Tränken behandelt worden - und hätte in den drei Tagen seiner Gefangenschaft auch keine Nahrung erhalten, was seinen abgemagerten Zustand erklären würde. Erika war dieser Behandlungsmethode immer miss trauisch gegenübergestanden. Ihr Verstand sagte ihr, dass ein Körper, gleichgültig, welch üble Säfte sich darin angesammelt haben mochten, Nahrung benötigte - aber leider war sie nicht zur Stelle gewesen, um ihren Verstand walten zu lassen.
Plötzlich bewegte sich sein Arm, hob sich ein wenig und fiel über die Beine seiner Schwester. Erika warf einen raschen Blick auf sein Gesicht, doch er war nicht aufgewacht. Auch seine Schwester nicht, die ebenfalls eingeschlafen war. Dennoch muss te ihm die unbewusste Bewegung Schmerzen bereiten, da über sein Gesicht nun ein leidverzerrtes Zucken huschte. Wie viel Schmerzen mochte ihm wohl seine Kopfverletzung bereiten? Wenn er sie tatsächlich in Wessex erhalten hatte, muss te er schon ziemlich lange darunter leiden. Wenigstens konnte man ihr nicht auch dafür die Schuld geben.
Als sie ihre Musterung fortsetzte, entdeckte sie knapp über seinen Handgelenken feine Einschnitte, die bereits verkrustet waren, und direkt unter den Schnittwunden die wundgescheuerte Haut. Sie zuckte zusammen, da ihr bewußt wurde, dass diese Verletzungen von den Eisenketten herrührten, an denen er mit seinem vollen Gewicht an der Wand des Kerkers gehangen hatte. Und sie hatte ihn dort hängen lassen, seinen Zustand als Erschöpfung gedeutet, obwohl er in Wahrheit starke Schmerzen gehabt hatte ...
Jetzt fiel ihr noch etwas auf, das vorher durch seinen Arm verdeckt gewesen war. Entlang der beiden Seiten seines Körpers zogen sich dunkelblaue Linien - Blutergüsse, und Erika wußte auch, woher sie stammten. Eine Hitzewelle ergriff sie, sogar ihre Hände begannen zu schwitzen. Sie hatte so gehofft, dass Turgeis rechtzeitig gekommen war, um Wulnoth aufzuhalten, weil sie sich dann nur vorwerfen müss te, den Mann eingesperrt und sich seiner Kopfwunde nicht genügend angenommen zu haben. Aber nein, sie war für diese Blutergüsse verantwortlich. Sie hatte in
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