Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
Messe teilnehmen. So, wie es aussieht, liegt er sterbenskrank auf seinem Lager und wird nach menschlichem Ermessen nie mehr in der Lage sein, die Geschicke des Reiches zu lenken. Die Tage des Königs sind gezählt. Möge Gott, der Allmächtige, ein Einsehen haben und ihn von seinem schweren Leiden, das ihn befallen hat, erlösen und ihm die ewige Ruhe schenken!«
Jetzt brach unter den Gläubigen erhebliche Unruhe aus. Ein Raunen, Flüstern und Zischeln ging um im Kirchenschiff, einige Frauen fielen auf die Knie, bekreuzigten sich und fingen an zu weinen.
Elisabeth von Bayern war bei den Worten des Erzbischofs leichenblass geworden. Ihr Vater, Herzog Otto II ., sah sich besorgt zu ihr um und flüsterte mit seiner Gemahlin. Der Erzbischof wartete, bis sich die erste Aufregung legte. Dann fuhr er in staatstragender Manier fort: »Genauso wie es keine Kirche ohne einen Papst geben darf, darf es kein Reich ohne weltlichen Herrscher geben. Ein Reich, dessen König im Sterben liegt, ist bald verdorrt wie eine Wüstenei, es dürstet nach Wasser. In meiner Eigenschaft als Vertreter des Heiligen Stuhls ist es mein Recht und meine heilige Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass in diesen schweren Zeiten ein neuer, starker König ausgerufen wird. Die Mehrheit der hier anwesenden Reichsfürsten stimmt mit mir überein, dass mir, in Absprache mit ihnen, die Investitur eines solchen Königs kraft meines Amtes und meines Ranges obliegt. Ich bestimme nun feierlich, dass …«
Ein mächtiger Rums gegen das Portal ertönte, einmal und laut.
Alle drehten sich nach dem Lärm um und wandten sich, als nichts weiter geschah, wieder dem Altar zu.
Der irritierte Erzbischof fing noch einmal von vorne an. »… bestimme ich feierlich, dass Wilhelm von Holland …«
Weiter kam er nicht, denn nun wurde auf einmal das schwere, zweiflügelige Hauptportal krachend mit solcher Wucht aufgestoßen, als sei ein Rammbock dagegen gefahren.
Die meisten Gläubigen schrien auf, weil sie befürchteten, der Tag des Jüngsten Gerichts wäre angebrochen, und drehten sich erneut nach der Ursache des Lärms um.
Durch das Hauptportal, das bereits fertiggestellt war, kamen jedoch nicht die himmlischen Heerscharen, sondern Soldaten mit dem königlichen Wappen auf der Brust im Laufschritt herein und schoben sich mit Gewalt wie ein Keil in die Menge, um rücksichtslos Platz zu schaffen. Als sich endlich eine Gasse durch die Menschenleiber bis vor zum Altar gebildet hatte, die von den Ketten bildenden Soldaten abgeschirmt wurde, trat Totenstille ein. Im Kerzenlicht konnte man die Atemwölkchen sehen, die in der kalten Weihnachtsnacht aus Hunderten von Mündern und Nasen ausgestoßen wurden.
Dem Erzbischof und Pater Severin war die Bestimmung des Geschehens auf einmal aus den Händen genommen, sie hatten die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, was jetzt kommen würde.
Das Portal wurde jetzt ganz geöffnet. Der Schein von Fackeln fiel in die Kirche. Und dann kam ein riesiger Mönch in seiner braunen Kutte hereingerannt, ungeachtet der feierlichen Stunde und Umgebung, beugte kurz in Richtung Altar sein Knie, bekreuzigte sich und eilte weiter durch die fassungslos ihm nachstarrende Menschenschneise vor bis zum Chor, dessen Leiterin er ein hastiges Zeichen gab: Bruder Thomas. Anscheinend war dies abgesprochen, denn die Nonnen fingen im gleichen Augenblick an, wie mit Engelsstimmen zu singen. Bruder Thomas schickte ein kurzes Kopfnicken zum Erzbischof, das man nicht unbedingt ehrerbietig und respektvoll nennen konnte, weil es mit einem fast unmerklichen spöttischen und schadenfrohen Grinsen garniert war.
Der unorthodoxe Auftritt von Bruder Thomas war erst der Auftakt zu einem genau geplanten, bemerkenswert effektvollen Schauspiel, das alle Anwesenden in seinen Bann zog und den Erzbischof und Pater Severin zu hilflos wirkenden Statisten degradierte, die vom überfallartigen Geschehen auf dem falschen Fuß erwischt und an den Rand gedrängt worden waren.
Bruder Thomas trat beiseite, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich erneut dem Eingangsportal zu. Gemessenen Schrittes kamen zwei uniformierte Soldaten in den Farben des Königs, drei rote Löwen auf goldenem Grund, mit Fackeln in den Händen herein. Ihnen folgte der junge König, aufrecht und kraftvoll, bekleidet mit kostbaren Gewändern in byzantinischem Stil. Er trug eine Dalmatika, ein violettes Unterkleid, das bis über die Knie reichte. Die langen
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