Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
hielt stand. »Das müsste genügen«, kommentierte die Medica entschlossen und band sich ihr Ende fest um die Taille. Bruder Thomas wusste immer noch nicht, worauf Anna hinauswollte, bis sie mit der Kordel um die Hüfte wieder zur Fensterlaibung ging und mit den Füßen auf den Schemel stieg. Nun ging ihm ein Licht auf. Er ahnte, was sie vorhatte, aber bei diesem Gedanken stieg gleichzeitig Panik in ihm hoch. »Hast du jetzt komplett den Verstand verloren?«, rief er. »Willst du dich etwa an diesem Ding …«, er hielt sein Ende der Kordel hoch und sah mit Grauen, wie alt und verschlissen es war, »… drei Stockwerke in den Burggraben abseilen?«
Anna drehte sich um und sah ihm eindringlich in die Augen. »Es wäre äußerst hilfreich, wenn du deinen Bierhumpen beiseitestellen könntest und diesen Strick da mit beiden Händen hältst, nur für den Fall, dass ich ausrutsche.«
Bruder Thomas ließ die Kordel los und schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein, das kannst du nicht von mir verlangen. Bei so etwas mache ich nicht mit. Das ist reiner Selbstmord, was du da vorhast.«
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte sie. »Ich muss den König sprechen, koste es, was es wolle.«
»Und wenn es dich dein Leben kostet – ist der Preis nicht zu hoch dafür?«
»Es wird schon nichts passieren. Jetzt stell dich nicht so an.«
Bruder Thomas stöhnte zum Gotterbarmen und verdrehte seine Augen, dabei streckte er theatralisch die Hände zur Decke empor. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für diese Sünderin jetzt und in der Stunde ihres Todes!«
Dann stellte er den Becher so heftig auf dem Tischchen ab, dass das Bier herausspritzte, schubste Anna beiseite und beugte, so gut es ging, seinen massigen Oberkörper aus der Fensternische nach draußen. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die Außenmauer des Palas ging schwindelerregend tief senkrecht nach unten bis zum Rand des zugefrorenen Burggrabens hinunter. Bruder Thomas blickte nach links und entdeckte einen Sims, etwa einen Fuß breit, der sich in jedem Stockwerk um das ganze Gebäude zog. Das Mauerwerk war rau, und zwischen den dicken Steinen waren Fugen, in die man gerade die Fingerkuppen stecken konnte. Die nächste Fensternische war vielleicht fünf oder sechs Schritte entfernt, sie war verglast, die Glasstücke waren mit Blei eingefasst, das musste das Fenster des königlichen Gemachs sein. Er schob sich mühsam wieder in die Kammer zurück und sah sie wild entschlossen an. »Ich mache das.«
Anna schüttelte den Kopf. »Sieh dich doch an. Du kommst ja kaum durch das Fensterloch. Und falls du das schaffst – soll ich dich vielleicht halten, wenn du ausrutschst?«
Bruder Thomas sah ein, dass sie recht hatte. »Und wie bitte«, fragte er, »willst du in die Kemenate des Königs kommen? Die Fensternische ist verglast und bestimmt von innen mit einem Riegel versperrt.«
»Ich benutze meinen Ellbogen«, antwortete sie unverzagt.
Bruder Thomas gab sich einen Ruck, bekreuzigte sich, schickte noch schnell ein stummes Stoßgebet gen Himmel, überprüfte den Knoten um Annas Taille und zurrte ihn nochmals mit aller Kraft fest. Dann sah er ihr tief in die verschiedenfarbigen Augen. »Wenn dir was passiert, bringe ich diesen Leibmedicus um. Parce mihi, Domine!«
»Pass auf, was du sagst! Versündige dich nicht meinetwegen«, entgegnete Anna ernst.
Bruder Thomas wickelte sich das andere Ende der Kordel um seine rechte Hand und nickte. »Ich bin so weit, wenn du es bist!«, stellte er genauso ernst fest.
»Du musst mir helfen, ich muss mit den Füßen voraus aus dem Fenster«, sagte Anna. Bruder Thomas machte eine Räuberleiter und bugsierte Anna hinterrücks durch die Nische hinaus. Er hielt sie vorerst noch an den Händen fest, bis ihre Beine und ihr Torso im Freien waren und sie mit den Füßen den Sims ertastet und einigermaßen Halt gefunden hatte. Dann ließ er nach und nach so viel Kordel ab, dass der Strick gespannt blieb, und stemmte sich gleichzeitig gegen die Wand, um Anna, falls sie abrutschte, halten zu können. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und gebetet, aber dazu war später noch Zeit. Jetzt musste er sich mit aller Macht darauf konzentrieren, dass Annas gefährliches Vorhaben nicht ein schreckliches Ende nahm.
V
D ie hohen Pforten der Klosterkirche des Frauenklosters St. Agatha in Köln wurden von zwei Nonnen aufgetan, Tageslicht fiel in den düsteren Kirchenraum. Die Äbtissin kam von strahlendem Licht umkränzt
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