Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
feierlich hereingeschritten und trug den Leichnam eines Kindes, in Leintüchern eingewickelt, aus denen nur das bleiche Gesichtchen mit den geschlossenen Augen hervorlugte. Es mochte etwa ein Jahr alt sein. Ein junges, bäuerliches Paar in einfacher, wollener Kleidung folgte ihr, die Frau mit Haube und verweinten Augen, der Mann mit Bart und versteinertem Gesicht.
Der Novizinnenchor sang unter der Anleitung von Schwester Clara, während die Äbtissin, sie war eine robuste, vierschrötige Frau von Gestalt und sah so aus, als würde sie es zur Not auch mit den vier apokalyptischen Reitern aufnehmen, gemessenen und würdevollen Schrittes durch die versammelte und schweigende Menschenmenge zum Altar ging. Vor dem Altar lag eine weißgekleidete Nonne mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf dem Boden, ganz dem Gebet und der Gnade Gottes hingegeben. Auf beiden Seiten des Altars waren die Nonnen des Klosters aufgereiht und harrten auf das Wunder.
Ebenso wie das einfache Volk im Kirchenschiff, darunter zahlreiche Pilger, das eben der heiligen Messe beigewohnt hatte und unter dem sich wie ein Lauffeuer während des Schlusssegens durch den zelebrierenden Pater die Kunde verbreitet hatte, dass Schwester Mathilde, die weit und breit bekannt war für ihre Visionen und gelegentlich auftretende Stigmata, erneut eine Wunderheilung vollbringen sollte. Die Äbtissin durchmaß mit ihrer zerbrechlichen Last vor den Eltern des Kindes die gesamte Länge der Kirche bis vor zum Altar, gefolgt von den neugierigen Blicken Hunderter Gläubiger, die gespannt darauf warteten, ob sich das Gerücht tatsächlich bewahrheiten würde, dass hier und heute vor aller Augen ein göttliches Mirakel vonstattengehen sollte.
»Das Kind ist tot, Eminenz, ich habe mich selbst davon überzeugt, es war ein Mädchen«, flüsterte Pater Severin Konrad von Hochstaden zu, der neben ihm im Schatten hinter einem Vorhang verborgen stand, der den Seiteneingang in der Apsis der Klosterkirche verdeckte. Durch ihn war der Erzbischof, ohne die Nonnen von seiner Visitation zu unterrichten, heimlich hereingekommen, um die Zeremonie zu observieren, von der Pater Severin durch die Äbtissin, die ihm einen Gefallen schuldig war, rechtzeitig erfahren hatte.
»Wann ist es gestorben?«, fragte der Erzbischof leise.
»Es war noch warm, als ich es berührt habe. Aber es war kein Leben mehr in ihr, kein Atem kam aus Mund oder Nase, ich habe es mit einer Flaumfeder überprüft«, antwortete Pater Severin im Flüsterton.
Der Erzbischof wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Äbtissin zu, die mit dem Kind auf dem Arm neben die am Boden liegende Nonne getreten war, die sich immer noch nicht rührte aus ihrer Versunkenheit in Gott.
Der Chor hörte auf zu singen, die Chorleiterin stellte das Dirigieren ein und wandte das Gesicht zum Altar.
»Schwester Mathilde!«, rief die Äbtissin feierlich in die Stille, so dass es durch das ganze Kirchenschiff hallte. »Bist du so weit? Ich habe hier ein Kind Gottes, das schon mit einem Fuß im Paradiese ist. Doch seine Eltern wollen es noch nicht gehen lassen und flehen zum barmherzigen Gott, auf dass er es ihnen zurückgebe. Schwester Mathilde, es bedarf deiner Hilfe und Fürsprache. Schwester Mathilde – hörst du mich?«
Die Nonne erhob sich daraufhin mit geschlossenen Augen und streckte die Arme aus. Sie war jung, hatte ein feingeschnittenes Gesicht und bewegte sich langsam wie eine Schlafwandlerin, um die Verbindung zum göttlichen Kosmos nicht abreißen zu lassen. Auf der Innenseite ihrer Hände waren deutlich die Wundmale des Herrn zu erkennen.
Die Äbtissin legte ihr das eingewickelte Kind sacht in die Arme. Die Nonne drückte es an sich, hob das verklärte Gesicht, ohne die Augen zu öffnen, in Richtung des Kruzifixes auf dem Altar und betete still und in voller Konzentration weiter. Nur ihre Lippen bebten und ließen ahnen, dass sie Zwiesprache mit dem Herrn hielt und ihn anflehte. Sie betete mit derartiger Inbrunst und Intensität, dass sich auf ihrer makellosen Stirn Schweißtropfen bildeten und sich ihre Wangen röteten.
Die Gläubigen schienen zu spüren, dass eine spirituelle Kraft freigesetzt wurde, die von der Nonne im strahlend weißen Habit mit dem Kind im Arm ausging und wie eine sich ausbreitende Aura alle Anwesenden im Kirchenschiff erfasste, sie gleichsam erschauern ließ, als wäre der göttliche Funke in sie gefahren. Kein Laut war zu hören außer dem Atmen der Nonne, das immer heftiger und rhythmischer wurde.
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