Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
gewesen, bei Angst oder Gefahr hatte sie unter diesem imaginären Mantel Geborgenheit und Sicherheit gefunden und neue Zuversicht und Kraft daraus geschöpft. Lange Zeit hatte sie nach den Schicksalsschlägen, mit denen Gott, der Herr, sie geprüft hatte, mit ihrem Schöpfer gehadert, so übel war ihr mitgespielt worden. Aber letzten Endes hatte sie sich doch wieder mit ihm versöhnen können, weil alles noch einmal gut ausgegangen war. Ende gut, alles gut?
Nein, mit dieser Verallgemeinerung konnte sie nichts anfangen. So hörten vielleicht Märchen für kleine Kinder am abendlichen Herdfeuer auf, die sich wohlbehütet im mütterlichen Schoß fühlten. Anna war auf sich allein gestellt gewesen und hatte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, unbeirrbar, zäh und gegen alle Widrigkeiten. Das hatte sie reifer und erwachsener werden lassen, und so erging es ihr auch mit ihrem Glauben. Er war auf unspektakuläre Weise wieder zurückgekehrt, auf einer anderen, höheren Ebene, wie sie fand. Ihre Zwiesprache mit einem Gott, von dem sie früher immer Wunder oder zumindest ein Zeichen erwartete, beschränkte sich jetzt darauf, dass sie zufrieden damit war, wenn er sie nur anhörte. Zwar antwortete er ihr nicht, aber ihr war leichter zumute, wenn sie ihm ihr Herz ausschütten konnte. Mit diesem innerlichen Abkommen, das sie jetzt mit ihrem Herrgott geschlossen hatte, konnte sie gut leben.
Blieb nur die Frage, ob auch Chassim damit leben konnte. Dass sie ihrer Bestimmung folgen würde, koste es, was es wolle. Würde sie damit ihr Glück aufs Spiel setzen? Sie wusste es nicht, und sie wollte im Augenblick nicht einmal daran denken. Sie wünschte sich nur nichts sehnlicher, als dass Chassim sie verstehen würde. Die inständige Bitte darum schloss sie in ihr Gebet ein.
Sie war schon abreisefertig in ihre Kutte gehüllt gewesen, als sie die stille und nur von ein paar flackernden Kerzen spärlich beleuchtete Burgkapelle betrat und den Gang zum Altar nach vorne ging. Dort kniete sie sich nieder und versank vor dem Kruzifix in ein stilles Gebet. Zu dieser frühen Stunde war sie allein mit sich und ihrem Gott. Sie betete für Kraft und für den König. Und dafür, dass ihr gewagtes Vorhaben aufgehen möge. Zum Abschluss warf sie noch einen Blick auf das Kruzifix und bekreuzigte sich. Die kirchlichen Gesten und Rituale waren ihr seit der Zeit im Kloster Heisterbach in Fleisch und Blut übergegangen, und sie empfand immer etwas Tröstliches dabei, es war wie das Anlegen eines unsichtbaren Schutzpanzers, bevor sie wieder hinausging in die kalte und gefährliche Welt draußen.
So gestärkt an Geist und Seele wollte sie sich eben erheben, als sie eine Tür quietschen hörte. Es war nicht die Eingangstüre, sondern die Pforte zur Empore, die nur für die gräfliche Familie bestimmt war und auf die man direkt aus den höher gelegenen Gemächern im Palas gelangen konnte. Sie drehte sich um und sah, wie Gräfin Ottgild in Begleitung eines Mädchens die Empore betrat.
Gräfin Ottgild brauchte im fahlen Dämmerlicht, das nun durch die wenigen, hochgelegenen Fensterlaibungen hereinfiel, eine ganze Weile, bis sie die Person erkannte, die sich mit heruntergelassener Kapuze vor dem Altar ihr zugewandt hatte. Dann rief sie »Anna!«, raffte den langen Umhang und kam die schmale Treppe von der Empore heruntergeeilt. Anna ging ihr mit einem Lächeln auf den Lippen entgegen und umarmte sie schwesterlich. Die Gräfin hatte eine Haube über dem Haar und ließ Annas Schultern nicht los, als sie ihr freudestrahlend in die Augen sah. »Anna – wie schön, dich zu sehen! Warum hast du mich nicht aufgesucht? Ich habe dich bei deiner Ankunft in der Halle kaum erkannt in deiner Verkleidung!«
»Verzeiht mir, Gräfin, aber es gab keine Gelegenheit. Ihr wisst, um den König steht es ernst, und ich hatte alle Hände voll zu tun.«
»Ich weiß, ich weiß, Anna.« In ihrer Stimme lag kein Vorwurf. »Aber was ist los mit dir – willst du uns schon wieder verlassen? Ich habe so viele Fragen an dich. Wie es dir geht, wie es meinem Bruderherz geht, wann du endlich meine Schwägerin wirst …«
Anna war dankbar, dass es in der Burgkapelle so düster war, dass man nicht sehen konnte, wie sie errötete. Sie überspielte ihre Verlegenheit. »Ich habe ebenfalls eine Menge Fragen an Euch. Aber das muss noch warten. Ich hoffe, dass ich bald wiederkomme und wir dann ein wenig Zeit füreinander finden. Aber jetzt muss ich los. Nur eines noch: Wie geht es Eurem
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