Die Rache des Kaisers
dahin hatte ich versucht, Zwiesprache mit den wesenlos Schwebenden zu halten, teilzunehmen an ihrem Austausch, und da dies unmöglich war, suchte ich Zuflucht in späteren Erinnerungen. Aber die beschworenen Bilder aus den Jahren des Reisens und Lernens konnten die der Toten nicht vollständig überdecken.
Andere Tote fielen mir ein, und vorübergehend kamen sie mir zu Hilfe. Zwei Straßenräuber in den Bergen, auf dem Weg von Westfalen zur Weser - einen tötete Avram mit dem Degen, dem anderen brach Jorgo das Genick; danach sagte Kassem, es sei nun an der Zeit, mit meiner Ausbildung zu beginnen. Sie dauerte eigentlich immer noch an, aber in den fünf Jahren hatte ich gelernt, mit Bidhänder, Kurzschwert und Messer umzugehen, konnte Schußwaffen laden, richten, abfeuern und notfalls flicken. Vor allem Jorgo hatte mir viele Möglichkeiten gezeigt, Gegner niederzuringen, über die Schulter zu werfen und lautlos mit den Händen zu töten. Ich hatte all dies anwenden müssen, in polnischen Wäldern und russischen Steppen, auf einem schwedischen Schiff, dessen Besatzung nicht aus Seeleuten, sondern aus Seeräubern bestand, in einer dunklen Gasse Londons, in einer Schänke in Paris … Ich fühlte mich ausreichend gewappnet, bereit, mich jenen Lebenden zu stellen, die zu suchen mein Ziel, nein, mein Zweck war. Doch half all dies mir nicht, die
Geister der Toten zu verscheuchen. Meiner Toten, der Menschen, die ich geliebt hatte und die mich in der Nacht umtanzten.
So saß ich auf einem Kissen aus Lumpen und Reisig, den Sattel im Rücken, atmete die kalte Nacht, roch den feuchten Waldboden, lauschte dem Regen auf dem Laubdach über uns und starrte dorthin, wo Glutpünktchen aufglommen, wenn ein Windhauch sich zur Feuerstelle verirrte. Weiter fort, rechts von mir, hörte ich ein Käuzchen schreien. In der Ferne grunzte irgendwo ein Wildschwein, das offenbar auch nicht schlafen konnte, und wie zur Antwort schnaubte leise eines unserer Pferde. Jorgo schnarchte. Ich zog die schwere Lederdecke fester um mich, und ich glaube, es war zu dieser Zeit, in dieser Unstunde zwischen Nacht und Morgengrauen, daß ich zum ersten Mal seit langem zu beten versuchte.
Es war ein ganz einfaches Gebet, und da es keinerlei Wirkung hatte, richtete ich es nacheinander an alle mir bekannten Götter. Aber weder der allgütige Vater der Christen noch Allah der Allerbarmer noch Jener, Dessen Name - wie ich von Avram gelernt hatte - nicht genannt werden darf, mochte sich dazu herablassen, mir beizustehen, und auch Thors Hammer und Jupiters Blitz hatten offenbar dringendere Aufgaben, als mich von denen zu befreien, die durch meine Gedanken geisterten.
Als Avram mich wachrüttelte, schien schwächlich die Morgensonne durch Wolken, aus denen es nicht mehr regnete. Schweigend aßen wir gestriges Brot und Früchte; dann führte ich die anderen hinab zu den Resten des Dorfs.
Es war beinahe Mittag, bis wir endlich alle Trümmer beseitigt und die schwere Steinplatte verschoben hatten, über
der in einer besseren Zeit das Familienfeuer gebrannt hatte. Darunter war die Höhlung, vom Vater und von mir mit Holz und Wachstuch ausgekleidet. Beide Beutel lagen darin, aber auf den ersten Blick sah ich, daß Wasser eingedrungen war, und ich spürte, daß mein Herz zunächst bersten wollte und dann schrumpfte.
Kassem, Avram und Jorgo hatten ein paar Schritte entfernt Feuer gemacht und mich mit den Beuteln allein gelassen. Die Münzen hatten kaum gelitten, aber von den Schreiben zweier Bankhäuser war wenig mehr zu lesen als deren Namen und Ort, und die Aufzeichnungen meines Vaters bestanden nur noch aus gequollenem Papier und zerlaufener Tinte. Hier und da waren zufällig noch ein paar Buchstaben zu enträtseln.
Kassem schien mit einer Mischung aus Erwartung und Mißtrauen den Topf zu betrachten, der auf Steinen stand, zwischen denen das Feuer brannte. Vielleicht galt die Miene auch den Gewürzen, die Avram eben ins Gebrodel streute und verrührte. Der Gesichtsausdruck änderte sich kaum, als Kassem die Augen hob und mich musterte.
»Mein Sohn«, sagte er, »du siehst nicht so aus, als hättest du die Flasche mit dem guten Dschinn gefunden, der dir alle Wünsche erfüllen wird.«
»Du bist scharfsichtig, mein Vater. Der gute Dschinn war mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Hat sich ein böser Ifrit der Dinge angenommen?« Jorgo wandte mir den Rücken zu und starrte zum Talausgang.
»Ein gehässiger Schelm.« Ich seufzte und ließ mich auf einem
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