Die Rache des Samurai
einmal ganz für Euch da sein, weil der heutige Tag von so großer Wichtigkeit für Euch ist.«
Sano hätte erwidern können, daß jeder der nächsten vier Tage von großer Wichtigkeit für ihn sei. »Was meint Ihr damit?« fragte er.
»Heute findet Euer miai statt.« Noguchi runzelte die Stirn, so daß die Falten die kahle Kopfhaut hinaufwanderten. »Ihr habt es doch nicht etwa vergessen?«
Doch, hatte er. Sano hatte es vollkommen vergessen. Dieses Treffen, auf das er sich einst so gefreut hatte, hätte zu keinem unglücklicheren Zeitpunkt stattfinden können. Wie konnte er seine Nachforschungen unterbrechen, um eine Heirat anzustreben, die ohnehin niemals stattfinden würde, falls es ihm nicht gelang, den bundori- Mörder binnen der Vier-Tage-Frist zu fassen?
»Heute nachmittag, am Kannei-Tempel«, sagte Noguchi voller Eifer. »Es ist alles vorbereitet. Die Ueda werden kommen. Eure Mutter, ihr Hausmädchen und Ihr selbst werdet von Sänftenträgern aus dem Palast zum Tempel gebracht. Ihr geht doch hin, nicht wahr?«
Sano hätte nichts lieber getan, als den miai aufzuschieben, doch sein Vater hatte sich diese Ehe gewünscht; sie war von entscheidender Bedeutung für den Aufstieg der Familie zu Ruhm und Ansehen. Also durfte Sano die Ueda auf keinen Fall beleidigen, indem er dieses wichtige Treffen kurzfristig absagte.
»Ich werde dort sein«, sagte er.
»Gut.« Noguchi war sichtlich erleichtert. »Anschließend könnt Ihr ja einen neuen Mittelsmann verpflichten.«
Sano verzog das Gesicht. Er hatte gar nicht die Zeit, jemanden zu suchen, der Noguchis Platz einnehmen konnte. Der miai würde den ganzen Nachmittag in Anspruch nehmen, und die Zeit drängte wie nie zuvor. Eilig wechselte Sano das Thema und kam auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen. »Habt Ihr inzwischen die Nachkommen General Fujiwaras ausfindig gemacht?«
Noguchi schlug die Augen nieder und beschäftigte sich plötzlich sehr eingehend mit der Suche nach einem Farbstein auf seinem Schreibpult. Ohne Sano anzuschauen, sagte er: »Ich fürchte, Ihr müßt Eure Theorie aus Mangel an Stichhaltigkeit verwerfen.«
»Sie verwerfen?« erwiderte Sano verwirrt. »Aber der Mord, der letzte Nacht verübt wurde, stützt meine Theorie!« Plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke. »Ihr habt die Namen nicht finden können, stimmt’s?«
Noguchis Kopf ruckte hoch, und er blickte Sano fest an. In seinen Augen spiegelten sich zugleich Mitleid und Verärgerung. »Ich habe die Liste hier.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier unter seiner Schärpe hervor; dann fügte er mit einem Seufzer hinzu: »Große Güte! Den Unglücksboten zu spielen ist eine undankbare Rolle. Ich hoffe, Ihr gebt nicht mir die Schuld daran, wenn Ihr jetzt enttäuscht seid.«
Noguchi hielt Sano das Blatt hin. Dieser riß es dem alten Mann aus der Hand und faltete es auseinander. Als er die Namen las, flutete eine Woge des Unglaubens und der Verzweiflung über ihn hinweg. Jetzt wurde ihm klar, was Noguchi gemeint hatte.
Sano kannte die vier Namen – auch ohne die Beschreibungen, die der Archivar hinzugefügt hatte. Alle Verdächtigen waren bekannte Bürger, und keinen von ihnen konnte Sano sich als den bundori -Mörder vorstellen:
Matsui Minoru. Der führende Kaufmann Edos; Finanzverwalter und Handelsbeauftragter der Tokugawa.
Chūgo Gichin. Hauptmann der Palastwache; einer der höchstrangigen Offiziere von Edo.
O-tama. Konkubine des obersten Straßenbaumeisters der Tokugawa; vor zehn Jahren in einen Skandal verwickelt, der für großes Aufsehen gesorgt hat.
Beim letzten Namen hatte Noguchi sich gar nicht erst die Mühe gemacht, eine kurze Beschreibung des Betreffenden zu geben. Überdies hatte er den Namen in kleineren Schriftzeichen notiert, so, als hätte er ihn widerwillig auf die Liste gesetzt:
Yanagisawa Yoshiyasu.
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I
n der Abgeschiedenheit seiner Privatgemächer hielt Kammerherr Yanagisawa den verschlüsselten Brief Aois an die Flamme der Lampe und beobachtete, wie er verbrannte. Seine zitternde Hand verstreute Asche auf der Tischfläche aus Lackarbeit. Entsetzen und Furcht ließen seinen Blick unscharf werden, bis er die Umgebung nicht mehr deutlich wahrnehmen konnte: die geschnitzten Truhen und Schränke, die farbigen Wandgemälde, die bestickten seidenen Kissen auf dem Fußboden, den Garten mit seiner künstlich angelegten Landschaft aus Felsen und geharktem Sand draußen vor dem geöffneten Fenster. Als Yanagisawa die volle Bedeutung der
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