Die Rache des Samurai
ich jetzt gehen? Mir ist kalt.«
Nachdem er sich noch einmal versichert hatte, daß Kenji wirklich nicht mehr über die Sänfte berichten konnte und daß er in der vergangenen Nacht niemand anders im oder außerhalb des Tempelgeländes gesehen hatte, ließ Sano den Jungen gehen.
»Tut mir leid, daß er uns nicht mehr berichten konnte, sōsakan-sama «, sagte Hirata. »Ich hatte gehofft, Euch einen brauchbaren Zeugen bringen zu können, um mein Versagen wettzumachen. Bis jetzt war ich Euch keine große Hilfe.« Beschämung lag in der Stimme des jungen dōshin .
»Unterschätze deine Leistung nicht, Hirata«, entgegnete Sano, der selbst gegen die Enttäuschung ankämpfen mußte. »Dank Kenjis Aussage können wir jetzt einen Verdächtigen mit dem Schauplatz des Mordes in Verbindung bringen. Du bist ein tüchtiger Ermittler, Hirata. Du hast dem Jungen mehr Informationen entlockt, als ich es gekonnt hätte.« Als Sano sah, wie Hirata vor Freude errötete, bedauerte er sein impulsives Lob, denn es verstärkte die Bindungen zwischen ihm und dem jungen dōshin , und das durfte er nicht zulassen.
»Suche weiter das Gelände ab«, befahl Sano. »Ich komme zu dir, sobald ich meine Befragungen abgeschlossen habe – von den dreitausend möglichen Zeugen und Verdächtigen hier im Kloster.«
Die nächsten Stunden verbrachte Sano in der Versammlungshalle des Klosters und befragte eine endlose Prozession verängstigter und verschreckter Mönche und Diener. Einige Mönche erkannte er als ehemalige Lehrer wieder, andere als Schulkameraden, die in den geistlichen Stand getreten und im Kloster geblieben waren. Doch als Sano die Befragungen beendete, fand er die Prophezeiung des Abts bestätigt. Niemand außer Kenji hatte in der Mordnacht irgend etwas gesehen. Und Bruder Endō hatte allgemein verkündet, daß er in der Nacht als Aufseher der Wachmannschaft Dienst tat. Er war ein geselliger Mann gewesen, der oft am Haupttor Posten gestanden und mit Besuchern geplaudert hatte. Jeder Pilger – darunter auch der Mörder – hätte von Bruder Endō selbst erfahren können, wie dessen Dienstplan aussah.
Nach den Befragungen schlossen Sano und Hirata sich einer riesigen Schar von Mönchen an, die den Tempel nach Beweisstücken durchforschten. Fackeln in den Händen, durchsuchten die Männer Kammern und Zimmer, Gänge und Flure, Gehwege und Treppen, Gärten, Nebengebäude, Grabmale, Friedhöfe, das Gelände um jeden Tempelbau und jedes Tor, den umliegenden Wald …
Und fanden nichts.
Als der Tag anbrach, stiegen Sano und Hirata auf ihre Pferde, um den Rückritt nach Edo anzutreten. Die einzigen greifbaren Belohnungen für all ihre Mühen befanden sich in Sanos Satteltaschen: die Werkzeuge des Mörders, die quadratischen Bretter und eisernen Dornen sowie die beiden Kimonos der geheimnisvollen Frau.
Diese Nacht hatte Sanos Bild vom Zōjō-Tempel für immer verändert. Wenn er jetzt daran dachte, sah er keinen sonnenüberfluteten Hafen des Betens und Lernens mehr; ebensowenig mußte er dann an die glücklichen und unglücklichen Kindheitstage denken, die er dort verbracht hatte. Statt dessen sah er beim Gedanken an den Tempel Bruder Endōs verstümmelte Leiche vor seinem geistigen Auge, und die einstigen Lehrer und Mitschüler betrachtete er unwillkürlich als mögliche Zeugen und Verdächtige. Die Nachforschungen beherrschten nicht nur seine Gegenwart und Zukunft – jetzt hatten sie auch seine liebevoll gehegten Kindheitserinnerungen zerstört.
»Dieser Mordschauplatz hat uns mehr Informationen eingebracht als alle vorherigen«, sagte Hirata, als wollte er nicht nur sich selbst Mut machen, sondern auch Sano.
Aber was konnten sie schon vorweisen? Die Bestätigung einer Theorie, die bis jetzt ins Nichts geführt hatte. Die Beschreibung der Sänfte eines möglichen Verdächtigen. Eine verschwundene Zeugin, von der nur zwei Kimonos als Hinweise auf ihre Identität existierten.
Und es blieben nur noch vier Tage, um den bundori- Mörder zu fassen.
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urück in Edo, trennten sich Sanos und Hiratas Wege vor dem Warenmarkt in Nihonbashi, einem weiträumigen Komplex aus Buden und Ständen, an denen Verkäufer mit Kunden und Lastenträgern feilschten, die Körbe voller Gemüse, Obst und Getreide auf dem Rücken trugen. Sano lenkte sein Pferd in eine ruhige Seitenstraße und erteilte Hirata, der ihm auf seiner Stute folgte, Anweisungen für die Arbeit des neuen Tages.
»Sobald du dich ausgeruht hast, suchst du alle Sänftenbauer in der
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