Die Rache des Samurai
Ehrenhaftigkeit waren mir stets Vorbild und Beispiel.« Da Sano seine Ehrerbietung üblicherweise durch die förmlichen Rituale der Verbeugung, des Überreichens von Geschenken und anderer, weniger persönlicher Gesten zum Ausdruck brachte, kamen ihm seine Worte beinahe unerträglich schwülstig und melodramatisch vor. Doch er zwang sich, fortzufahren. »Eure freundschaftliche Verbundenheit war mir eine Ehre und Auszeichnung.«
Er verbeugte sich tief, als hätte er einen Vorgesetzten und keinen gemeinen Bürger und Verbrecher vor sich, denn nichts anderes war Doktor Ito. »Nun muß ich Euch … Lebewohl sagen«, endete Sano, und auf seinem Gesicht lagen Schüchternheit, Befangenheit und Schmerz.
»›Lebewohl‹?« Doktor Ito schüttelte verwirrt den Kopf, als er erkannte, daß es sich um keinen gewöhnlichen Abschied handelte. »Was hat das zu bedeuten, Sano- san ?«
Sano preßte die Lippen zusammen, um nicht voller Angst und Entsetzen herauszuschreien: Ich will nicht sterben! Bitte, rettet mich! Denn falls Ito irgendein Anzeichen von Mitgefühl zeigte, war Sano verloren. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen. Doch das mindeste, das er seinem Freund schuldete, war eine Erklärung. Von häufigen Pausen unterbrochen, schilderte er Ito seinen Plan und dessen möglichen Ausgang. »Vielleicht muß ich morgen sterben, Ito -san . Deshalb bin ich gekommen, mich von Euch zu verabschieden und zu sagen … was gesagt werden mußte.«
Die Falten auf Itos Gesicht wurden tiefer. Sein durchdringender Blick verlor an Schärfe; seine Augen waren dunkel vor Schrecken. »Aber ich verstehe nicht, weshalb Ihr … diese Sache tun müßt«, sagte er.
»Ich habe meinem Vater versprochen, beispielhaft nach den Regeln des bushidō zu leben und eine Heldentat zu vollbringen, die unserer Familie einen Ehrenplatz in der Geschichte verschafft«, erwiderte Sano steif, als würde er einen Gebetsvers zitieren. »Als ich diese Nachforschungen aufnahm, gab ich mir selbst das Versprechen, dem Mörder die gerechte Strafe zukommen zu lassen und Leben zu retten. Kammerherr Yanagisawa ist schlecht und verderbt. Sollte er überdies der bundori- Mörder sein – und alles spricht dafür –, würde ich meine Ziele erreichen, indem ich ihn vernichte, die Regierung von seinem schädlichen Einfluß befreie und mir dann … das Leben nehme.«
Doktor Ito öffnete den Mund, schloß ihn wieder. Er hob die Arme, ließ sie wieder fallen. Zum erstenmal schien er mit seiner Weisheit am Ende. Dann holte er tief Luft und sagte: »Verzeiht mir, Sano -san . Was ich Euch jetzt sagen möchte, würde ich aus Achtung vor Eurer Person und Eurem Stand unter anderen Umständen für mich behalten. Aber Euer bushidō ist ein grausamer, zerstörerischer Ehrenkodex. Seht Ihr denn nicht, daß der bushidō die Ehre, Pflicht, Treue und den Respekt gegenüber den Eltern auf die Spitze treibt? Wie kann der Selbstmord einen Sinn haben, wenn dabei das eigene Ich vernichtet wird, dem doch alle diese Tugenden entspringen und innewohnen?«
Er beugte sich näher zu Sano heran und fuhr in beschwörendem Tonfall fort: »Hört zu. Als ich Arzt wurde, habe ich mich der Aufgabe verschrieben, andere Menschen zu heilen und Leben zu bewahren. Denn das Leben ist kostbar; es macht alle Dinge möglich. Solange ein Mensch lebt, wohnt ihm die Kraft inne, viele Wunder zu vollbringen. Das alles ist viel wichtiger und wertvoller als diese eine letzte Tat, die Ihr im Sinn habt. Doch wenn Ihr Euch selbst tötet – was dann?
Euer Name in Geschichtsbüchern? Ein Preis ohne Wert! Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis; die Helden von gestern sind schnell vergessen. Euer Körper wird zu Asche im Wind, und Eure Seele wird niemals wieder leben – es sei denn, durch Wiedergeburt. Allerdings kenne ich für dieses Phänomen keinen wissenschaftlichen Beweis. Bitte, Sano- san . Überlegt es Euch!«
Sano stemmte sich gegen Itos Argumente, die an den skeptischen und rebellischen Teil seiner Natur appellierten. »Der bushidō ist vollkommen«, sagte er, obwohl er die Wahrheit in Itos leidenschaftlichen Worten erkannte. »Ich kann ihn nicht außer acht lassen und mich dann immer noch als Samurai bezeichnen. Ein Versprechen ist ein Versprechen. Pflicht ist Pflicht.«
In Itos Augen lag aufkeimender Zorn. »Euer Vater hätte niemals ein solches Opfer von Euch verlangen dürfen! Daß er es getan hat, ist ein Beispiel für die Selbstsucht eines Sterbenden.« Itos Stimme klang schroff; in seiner Miene spiegelte
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