Die Rache des Samurai
Hirata den Schriftrollenbehälter aus Bambus, der an Matsui gerichtet war.
»Bestelle einen Boten und bezahle ihn, daß er diese Nachricht sofort zu Matsui bringt«, sagte Sano und gab Hirata die erforderlichen Münzen. »Die Rollen, die für Chūgo und Yanagisawa bestimmt sind, werde ich selbst überbringen.« Dann reichte er Hirata schweren Herzens die Schriftrollenhülle aus Lack. »Falls morgen alles so verläuft … wie wir vermuten, gib diese Rolle an die Behörden weiter.« Sano stieg auf sein Pferd. »Ich treffe dich bei Tagesanbruch am Boot.«
»Ja, sōsakan-sama .« Hirata räusperte sich. » Sumimasen . Verzeiht, aber wenn die Briefe verteilt sind, würdet Ihr mir dann die Ehre geben und beim Abendessen mein Gast sein?«
Sano rührte dieses Angebot. Der stets freundliche und treue Hirata wollte ihn nicht mit seinen düsteren Gedanken allein lassen und dafür sorgen, daß der vielleicht letzte Abend im Leben Sanos nicht ohne eine kleine zeremonielle Feier verstrich.
»Danke, Hirata- san «, erwiderte Sano mit aufrichtigem Bedauern, »aber ich muß mich um dringende private Angelegenheiten kümmern.«
Er sah Mitgefühl und Verständnis in Hiratas Augen. Der junge dōshin , ein Samurai wie Sano, wußte genau, um welche privaten Angelegenheiten es sich handelte.
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W
enn ein Samurai rituellen Selbstmord begehen wollte, verlangte die Tradition von ihm, daß er sich von den wichtigen Menschen in seinem Leben verabschiedete: daß er sich für die Dienste bedankte, die sie ihm geleistet hatten, für die Freundschaft, die sie ihm erwiesen hatten, und für den Vorzug, mit ihnen verbunden gewesen zu sein.
Zuerst besuchte Sano Doktor Ito im Gefängnis von Edo. Der Arzt hielt sich in den Kasernen der Wächter auf, wo er Patienten behandelte – mit jenen medizinischen Kenntnissen, die Ito sich erworben hatte, bevor er zu lebenslangem Dienst als Aufseher der Leichenhalle verurteilt worden war. Die düsteren, schmuddeligen Kasernen bildeten innerhalb der hohen Gefängnismauern einen zweiten Umschließungswall. Vor einem der Kasernengebäude saß ein Wächter auf einem Stuhl; Doktor Ito stand über ihn gebeugt. Als Sano näher kam, zog Ito soeben die Unterlippe des Mannes hoch und entblößte ein großes, häßliches Geschwür, das von vereitertem, geschwollenem Fleisch umgeben war. Ito drückte einen glänzenden, braunen Blutegel darauf. Der Patient wimmerte und schloß die Augen, als der Egel das vergiftete Blut aufsaugte.
»Sano -san ! Was für eine angenehme Überraschung.« Die ernste Miene Itos entspannte sich, als er freudig lächelnd aufblickte. »So schnell habe ich gar nicht mit Eurem Besuch gerechnet. Ich dachte, Ihr hättet meine Nachricht erhalten, daß ich an den Überresten der Ermordeten keine Hinweise entdecken konnte.« Seine gelöste Miene wurde sorgenvoll, als er Sanos Gesicht sah. »Stimmt etwas nicht?«
Zum erstenmal zeigte Sano sich seinem Vertrauten und Mentor gegenüber verlegen. »Ich muß mit Euch reden«, sagte er leise.
»Gewiß. Einen Augenblick.«
Ito wandte sich wieder seinem Patienten zu. Er wartete, bis der Blutegel auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe angeschwollen und das Geschwür geschrumpft war. Dann zog er den Egel behutsam von der Lippe des Mannes und steckte das Tier in ein kleines Gefäß aus Keramik, das an seiner Schärpe befestigt war.
»Spült Euch jede Stunde den Mund mit Salzwasser aus, damit es nicht wieder eitert«, sagte Ito zu dem Wächter und reichte ihm ein Päckchen aus Papier. »Und trinkt dieses Kukumo heute abend in Eurem Tee. Das lindert den Schmerz und hilft gegen die Schwellung. Morgen werdet Ihr Euch wieder besserfühlen.«
»Danke, Ito-san«, murmelte der Patient.
Ito wandte sich Sano zu. »Kommt«, sagte er, denn er hatte offenbar erkannt, daß Sano gern ungestört mit ihm reden wollte. »Gehen wir in meine Unterkunft.«
Sie verließen das Kasernengelände und betraten einen Durchgang, in dem Sano jedoch stehenblieb. Er wollte seine vielleicht letzte Begegnung mit Ito zwar nicht unhöflich gestalten, doch er mußte diese Tortur schnell hinter sich bringen, bevor er in seiner Entschlossenheit schwankend wurde.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte er knapp. »Ich … ich wollte Euch nur danken, Ito-san . Für alles, was Ihr für mich getan habt.«
Ohne das verdutzte Stirnrunzeln seines Freundes zu beachten, fuhr Sano rasch fort: »Eure Weisheit und Hilfe waren mir ein Licht in schweren Zeiten. Und Euer Mut, Eure Hingabe und Eure
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