Die Rache des Samurai
sich Verzweiflung. »Und dieser genußsüchtige Dummkopf, Tokugawa Tsunayoshi, der mich ins Gefängnis brachte und den verderbten Yanagisawa an seiner Stelle regieren läßt … er verdient Euer Opfer nicht!«
Seine eigenen geheimen Gedanken laut ausgesprochen zu hören, beschämte und verärgerte Sano so sehr, daß er vor Zorn beinahe überkochte. »Wie könnt Ihr es wagen, meinen Vater und meinen Fürsten herabzusetzen!«
Ito seufzte. »Ah. Wie ich sehe, habe ich durch meinen Versuch, Euch vor Euch selbst zu retten, nur Euren Zorn erregt. Ich bitte um Vergebung. Doch mir liegt nur Euer Wohlergehen am Herzen – wobei ich offenbar der einzige bin. Ihr wollt meine Kritik am bushidō nicht hören? Oder meine Kritik an jenen Leuten, die Treue und Ergebenheit von Euch verlangen? Dann werde ich nicht mehr davon sprechen. Dann will ich Euch bitten , als Euer Freund, der Euch ehrt und schätzt: Tut es nicht. Sucht eine andere Möglichkeit. Bitte.«
Er streckte Sano die zitternden Hände entgegen. Zum erstenmal war Ito nicht das gewohnte eindrucksvolle Sinnbild des gelehrten Mannes voller wissenschaftlicher Neugier und persönlicher Hingabe. Diesmal war er bloß ein schwacher alter Mann.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte Sano leise. »Mir bleibt keine Wahl.«
Ein Ausdruck unendlicher Traurigkeit legte sich auf Doktor Itos Gesicht, als er sich geschlagen gab und müde nickte. »Ich bin kein Samurai; deshalb kann ich die inneren Kräfte nicht begreifen, die Euch antreiben. Aber ich weiß, daß ein Mann tun muß, was er für richtig hält. Ich habe mein Leben lang nach diesem Grundsatz gelebt.« Er hielt inne; dann verbeugte er sich. »Ich werde Euch vermissen, Sano- san .«
»So wie ich Euch vermissen werde, Ito- san .« Sano verbeugte sich mit der gleichen Förmlichkeit. Mit Mühe hielt er die Tränen zurück. Er wollte seinen Freund nicht verlassen; er wollte nicht sterben und die wundervollen Möglichkeiten aufgeben, die das Leben bot. Doch Doktor Ito konnte ihn nicht retten; nur das Schicksal hatte die Macht dazu – und es sah so aus, als hätte es ihm den Tod bestimmt.
Das Licht flackernder Laternen ließ Sanos Schatten über die Gehwege vor ihm tanzen, als er über das Gelände des Momijiyama stürmte.
»Aoi!« rief er. »Wo bist du?«
Seine Stimme hallte von den Wänden der prachtvollen Tempelbauten wider. Es kümmerte Sano nicht mehr, daß sein rüdes Verhalten eine Respektlosigkeit gegenüber den Ahnen seines Herrn darstellte; er fürchtete sich auch nicht mehr vor einem weiteren Angriff. Es ging ihm nur noch darum, Aoi zu finden. Er rannte steinerne Treppen hinauf, klopfte an Türen, rief Aois Namen. In stummer Mißbilligung starrten aus Stein gehauene Dämonen von den Dachvorsprüngen auf ihn hinunter.
»Aoi, antworte!« rief Sano.
Er hatte damit gerechnet, daß sie auf ihn warten würde, wenn er in den Palast zurückkehrte. Doch in seiner Villa hatte er nur seine Diener angetroffen; sie hatten ihm mitgeteilt, daß sie Aoi weder gesehen noch eine Nachricht von ihr bekommen hätten, aus der hervorging, weshalb sie nicht anzutreffen sei. Sanos Enttäuschung war stärker geworden als seine Selbstdisziplin, die er bei Hirata und Doktor Ito noch hatte wahren können, und so war er losgerannt, um Aoi zu suchen. Nun aber übermannte ihn die Verzweiflung.
Er mußte die wahrscheinlich letzte Nacht seines Lebens mit Aoi verbringen. In diese eine Nacht mußte er all die Jahre hineinlegen, die ihnen wahrscheinlich verwehrt blieben. Er wollte Aoi berichten, daß alle Beweise, die er an diesem Tag gefunden hatte, auf Yanagisawas Schuld hindeuteten; daß der Kammerherr morgen sehr wahrscheinlich sterben würde – und daß sie, Aoi, dann frei wäre. Er wollte die Erinnerung an ihre Freude als Belohnung mit in den Tod nehmen. Und er hatte das Verlangen, ein letztes Mal bei einer Frau zu liegen – ein Verlangen, das seit undenklichen Zeiten jeder Krieger vor der Schlacht verspürte. Er wollte noch einmal das Leben kosten, ein letztes Mal Lust und Leidenschaft erfahren.
Der Tempel war leer und verlassen. Die Hütte! schoß es Sano durch den Kopf. Sie muß in der Hütte sein. Er stürmte in den Kiefernwald und stolperte über Steine und Felsen, während Äste und Zweige seine Arme und Beine peitschten.
Das Fenster der Hütte war dunkel. Sano klopfte, doch niemand öffnete. Er trat ein und sah, daß das einzige Zimmer leer war. Plötzlich hörte er draußen ein Rascheln. Eine Gänsehaut überlief ihn;
Weitere Kostenlose Bücher