Die Rache des Samurai
solche Empfindungen hast?«
Sano strömte das Herz vor wehmütiger Liebe zur Welt über. »Ich habe nie erkannt, wie schön das Leben ist.«
Er hielt inne, als ihm klar wurde, daß erst der drohende Tod ihn diese Schönheiten schätzen ließ. Scham verdrängte sein flüchtiges Hochgefühl: Er hatte Hirata spüren lassen, daß er nicht sterben wollte, obwohl der Tod ihnen beiden fast sicher war, und nun mußte der junge dōshin auf seine Kosten leiden.
»Vergiß, was ich gesagt habe«, rief Sano eilig.
Zu spät; der Schaden war angerichtet. Hirata, der inzwischen erkannt hatte, wie unwiderruflich sein Schicksal mit dem Sanos verknüpft war, blickte entsetzt. Er wurde grün im Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund. »Verzeiht«, preßte er hervor.
Er flitzte zur Tür hinaus. Seine Schritte pochten auf den Planken, als er über das Deck zur Backbordseite rannte. Durch die Ritzen im Fensterladen konnte Sano sehen, wie Hirata sich über die Reling beugte; er hörte, wie der dōshin sich würgend in den Fluß übergab. Sano wünschte sich, seine eigenen Ängste ebenfalls erbrechen zu können, doch sein Magen war leer; er hatte seit gestern nichts gegessen.
Nach einiger Zeit kam Hirata zurück, mit blassem Gesicht, aber ansonsten gefaßt. Das Haar klebte ihm auf der schweißnassen Stirn. »Das Schaukeln des Bootes hat mich seekrank gemacht«, schwindelte er.
Sie nahmen ihre Wache wieder auf. Die Atmosphäre in der Kajüte wurde dichter, gespannter, und war mit dem Geruch des Flusses geschwängert. In der Ferne grollte Donner. Während der Wind klagend und wimmernd um das Boot fuhr, klatschten die ersten Regentropfen auf das Kajütendach und sprenkelten das Wasser. Allmählich fragte sich Sano, ob der Mörder überhaupt erschien.
Dann dröhnte ein Geräusch über die Stadt hinweg: das Bimmeln und Läuten ungezählter Tempelglocken, die den Mittag verkündeten. Im selben Moment hielt der Wächter auf dem Gehweg inne, der soeben ein Stück Abfall aufspießen wollte. Er richtete sich auf und spähte den Hang zur Feuerrinne hinunter. Der Angler auf der Brücke legte seine Rute zur Seite.
Sanos Körper straffte sich. Kälte durchrieselte ihn, daß ihm das Blut in den Adern gefror, und ihm stockte der Atem. Hirata kam zu ihm auf die Sitzbank und starrte ebenfalls in gelähmtem Schweigen durch die Ritzen des Fensterladens.
Mit übertriebener Lässigkeit hob der Wächter auf dem Gehweg die Hand und kratzte sich am Kopf.
Das Zeichen, daß Chūgo kam.
Hirata stöhnte leise auf. Die Ketten in Sanos Innerem lösten sich. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und ihm wurde vor Erleichterung schwindelig. Heftig stieß er den Atem aus, als alle die grenzenlosen Möglichkeiten, die das Leben bot, sich plötzlich wieder vor ihm auftaten. Die Zukunft existierte wieder. Sano fühlte sich unbesiegbar, wie neugeboren; am liebsten hätte er seine wilde Freude hinausgeschrien, hätte getanzt und gelacht. Doch er tauschte nur ein strahlendes Lächeln mit Hirata; dann sprangen beide von der Sitzbank und nahmen ihre Positionen ein. Sano stellte sich mit gezogenem Schwert an die Backbordseite der Tür. Hirata bezog auf der Steuerbordseite Stellung; die jitte in der einen Hand, ein zusammengerolltes Seil in der anderen machte er sich bereit, Sano bei der Gefangennahme Chūgos zu helfen.
Eine kleine Ewigkeit verging. Dann erschien Chūgos hagere Gestalt auf dem Gehweg. Den Kopf gesenkt, ging er mit raschen, festen Schritten durch den inzwischen strömenden Regen. Er erreichte die Anlegestelle, blieb stehen, ließ den Blick in die Runde schweifen und betrat den Bootssteg. Für einen Moment verschwand er aus dem Blickfeld, als er vom Rumpf des Bootes verdeckt wurde. Dann war das Knarren der Bretter zu hören, als er die Laufplanke hinaufstieg. Unter seinem Gewicht legte das Boot sich leicht auf die Seite. Dann kam Chūgos Kopf über der Reling zum Vorschein. Sanos Herz tat einen Sprung, als er durch den Fensterladen Chūgos Gesicht sah. Steinern, wild entschlossen, erbarmungslos – das Gesicht des bundori- Mörders.
Sano packte sein Schwert fester. Plötzlich wurde er durch eine Bewegung hinter Chūgo abgelenkt.
Statt wie geplant auf den Bootssteg zu kommen, stand der Beobachter noch immer auf dem Gehweg und schaute zur fernen Feuerschneise hinunter. Der ›Angler‹, der von der Brücke heruntergestiegen war, die Keule und den Dolch in den Händen, um sich zu seinem Gefährten zu gesellen, war auf halbem Weg stehengeblieben. Er machte
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