Die Rache des Samurai
seine Sinne meldeten ihm Gefahr. Doch Sano hörte nicht auf die Warnung seines Instinkts. Er stürmte ins Freie. Aoi! Vor Glück schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Er sah und hörte niemanden.
»Aoi«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. »Aoi.«
Bedrückt, von Schmerzen an Körper und Seele gepeinigt, machte Sano sich auf den Heimweg. In der Villa kniete er vor dem Gedenkaltar seines Vaters nieder, zündete Kerzen und Weihrauch an, verbeugte sich vor dem Porträt des alten Mannes und betete:
»Vater. Bitte, gib mir den Mut zu tun, was getan werden muß. Gib mir die Kraft, den bundori- Mörder der gerechten Strafe zuzuführen, auch wenn es meinen Tod bedeutet.«
Nur Sanos gequälte Stimme klang durch das leere Zimmer. Das Gesicht seines Vaters schaute ihn mit blicklosen Augen an. In der Stunde der größten Not blieb der Geist seines Vaters stumm, unerreichbar.
Einsam bis ins Innerste seiner Seele, weinte Sano.
34
D
er schicksalhafte Tag war gekommen. Nur noch Augenblicke blieben bis zum vereinbarten Zeitpunkt, der Sano das Leben und vergänglichen Ruhm oder den Tod und ewige Ehre bringen würde. Er hatte sich mit Hirata an Bord von Frau Shimizus Boot in der Kajüte versteckt. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Jetzt konnten Sano, Hirata und ihre Helfer nur noch darauf warten, daß der Mörder erschien.
Von seinem Platz auf der Sitzbank, von dem aus man das Steuerborddeck überschauen konnte, blickte Sano durch die Schlitze des Fensterladens, dann durch die offene Tür. Er sah, daß zwei von Hiratas Helfern ihre vorherbestimmten Positionen eingenommen hatten. Einer der beiden, der sich als Müllsammler tarnte, schlenderte auf dem Gehweg umher. Mittels einer Bambusumhüllung, die er blitzschnell entfernen konnte, hatte er seinen Speer in einen spitzen Stock verwandelt, mit dem er Abfälle aufspießte, die er dann in seinen Korb warf. Der zweite Helfer, mit einer Rute und einem Eimer ausgerüstet, stand auf der Brücke und angelte. In seinem Angelkasten waren eine Keule und ein Dolch versteckt. Sano hatte die Männer im Freien postiert, damit die Umgegend des Bootes nicht allzu verlassen wirkte und womöglich den Argwohn des Mörders erregte, doch er hatte einen dritten Helfer – als Sicherheitsreserve – unter dem Bootssteg postiert. Sie alle hatten ihre Befehle. Während Sano beobachtete, scheuchte der Mann auf der Brücke einen richtigen Angler davon. Sano konnte beinahe den vorher abgesprochenen Befehl hören:
»Diese Gegend darf auf polizeiliche Anordnung nicht betreten werden.«
Bis jetzt schienen die Wettergötter bei Sanos Plan mitmachen zu wollen. Der Himmel war dunkel, von geronnenen Massen dichter, graugrüner Regenwolken bedeckt. Ein böiger Südwestwind wehte vom Meer herüber; er ließ das Boot schaukeln und den Mast knarren, pfiff durch die Fensterläden und ließ Wellen gegen den Rumpf klatschen. Die warme Luft war feucht und mit den Gerüchen von Fisch und Brackwasser gesättigt. Den ganzen Morgen hatte zu Lande und zu Wasser nur wenig Verkehr geherrscht, und die Balkone der Häuser blieben so leer wie die Decks der anderen Boote. Mit etwas Glück würden keine unschuldigen Passanten unbeabsichtigt in die Gefangennahme – oder Tötung – des Täters verwickelt.
Sano, der den Blick fest auf den Gehweg gerichtet hielt, spürte Unruhe in sich aufsteigen. Er hatte eine einsame, schlaflose Nacht verbracht und vergeblich auf Aoi gewartet. Nun brannten ihm die Augen vor Müdigkeit; sein von den Schlägen geschundener Körper schmerzte. In seinem Inneren legten sich unsichtbare Ketten um seinen Magen, die Lungen und das Herz und zogen sich immer fester zusammen. Panik schnürte ihm die Kehle zu, als er sich vorstellte, wie Kammerherr Yanagisawa die Laufplanke hinaufgestiegen kam. Zugleich aber erblickte Sano in der normalen, vertrauten Welt Dinge, die er nie zuvor wahrgenommen hatte. Um die gespannte Atmosphäre zu lockern, berichtete er Hirata von seinen Entdeckungen.
»Sieh doch nur, wie jede Wolke aus tausend verschiedenen Grautönen besteht. Und wie der Wind sie zu Himmelsgebilden formt, die fortwährend ihre Gestalt verändern.« In seiner Stimme lag Schwermut. »Und bald wird es regnen … ist dir jemals aufgefallen, daß der Regen so wundervoll riecht, daß man ihn schmecken kann? Oder daß die Vögel ein besonderes Lied singen, wenn sie wissen, daß es bald zu regnen anfängt? Oder daß selbst Trauer und Schmerz angenehm sein können, weil du weißt, daß du lebst , wenn du
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