Die Rache des Samurai
beachtete seinen Vetter gar nicht und stieß ein erstauntes Schnaufen aus, als Chūgo ihn zur Seite stieß. Ein lautes Platschen ertönte, als Matsui ins Wasser fiel. »Hilfe!« brüllte er. »Ich kann nicht schwimmen!«
Sano traf seine Entscheidung. »Wir schnappen uns Chūgo jetzt!«
»Aber …« Hirata wies zum Ufer hinüber, wo seine Helfer hilflos und ratlos beisammen standen. Sie hatten den Befehl, in die Kajüte zu stürmen, sobald der Mörder sie betreten hatte. Nun trieb ein Verdächtiger im Wasser, und der andere rannte die Laufplanke hinunter und drohte zu entkommen. »Meine Leute wissen nicht, was sie tun sollen!« rief Hirata.
Doch Sano war schon aus der Tür. Der Regen traf ihn wie ein Vorhang aus Wasser und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Über das Heulen des Windes in seinen Ohren hinweg hörte er die Schreie Matsuis und die Rufe seiner Leibwächter. Er packte sein Schwert und sprang um die Ecke der Kajüte auf das Steuerborddeck – gerade noch rechtzeitig, um einen der Leibwächter vom Bootssteg aus in den Fluß springen zu sehen, um Matsui zu retten; der andere Wächter stellte sich Chūgo in den Weg.
In einer blitzschnellen, fließenden Bewegung zog Chūgo sein Schwert. Die Klinge schlitzte die Kehle des Wächters auf, noch bevor der Mann sein Schwert aus der Scheide gezogen hatte. Ein Blutschwall schoß aus der Wunde, und der Mann stürzte tot zu Boden. Chūgo versetzte der Leiche einen Tritt, daß sie in den Fluß fiel, und rannte die Laufplanke hinunter.
»Chūgo!« rief Sano. »Stehenbleiben!« Entsetzt über den kaltblütigen Mord und wider Willen beeindruckt von Chūgos Schwertkunst, stürmte Sano dem Mörder hinterher. Seine Füße gerieten auf der glitschigen, nassen Laufplanke ins Rutschen.
Hirata folgte Sano dichtauf. »Ergreift ihn!« rief der junge dōshin seinen Helfern zu.
Die drei Männer rannten auf den Bootssteg zu und schwangen ihre Speere, Keulen und Dolche. Doch als Chūgo, das blutige Schwert erhoben, auf sie losstürmte, ergriffen sie voller Entsetzen die Flucht. Augenblicke später war Chūgo auf dem Gehweg und rannte in Richtung Feuerschneise. Sano sprang von der Laufplanke auf den Bootssteg, erleichtert, daß die drei Wächter den Kampf mit Chūgo gemieden hatten; der Hauptmann hätte die Männer mit einem einzigen Hieb getötet. Nun aber schauderte Sano bei dem Gedanken, diesen tödlich gefährlichen Mann durch die Straßen Edos verfolgen zu müssen. Er wußte, daß Chūgo nicht davor zurückschrecken würde, Unschuldige niederzumetzeln, um in der Menge untertauchen zu können.
Nahezu geblendet vom windgepeitschten Regen, stürmte Sano über den Bootssteg. Wilde Entschlossenheit ließ ihn alle Furcht vergessen, allen Schmerz seines geschundenen Körpers. Chūgo rannte inzwischen an der letzten Anlegestelle vorüber. Schließlich gelangte er zur steilen Böschung des Kanals, die hinunter zur Feuerschneise führte. Doch Sano konnte den Abstand zu Chūgo halten; auch Hirata, der Sano dichtauf folgte, verlor nicht den Anschluß.
»Bleibt stehen, Chūgo!« brüllte Sano und schwang sein Schwert, als ein gewaltiger Blitz die Welt in grelles, blendend weißes Licht tauchte. Augenblicke später riß der Donner Sano die Worte von den Lippen.
Der Hauptmann der Palastwache rannte zur Seite, um den Hang hinunterzuschlittern. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung, die ihm beinahe das Herz zersprengte, schloß Sano bis auf zwanzig Schritt zu dem Flüchtenden auf. Er mußte sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen, Chūgo lebend zu fassen. Falls er diesen Mann einholte, würde er alle seine Fähigkeiten beim Zweikampf gegen den wohl besten Schwertfechter Edos brauchen …
Plötzlich verharrte Chūgo abrupt. Auch Sano kam schlitternd zum Stehen – so plötzlich, daß Hirata gegen ihn prallte. Ungläubig starrten sie auf das Bild, das sich ihnen bot.
Eine Prozession von mindestens fünfzig Personen kam den Hang hinaufgezogen – Fußsoldaten, berittene Samurai und Diener, die Schirme über in Seidenkleidung gewandete Beamte hielten. An der Spitze des Zuges trugen sechs Männer eine Sänfte, die mit den Abbildungen fauchender Drachen verziert war.
»Kammerherr Yanagisawa«, stieß Sano hervor. Ein ungläubiges Lachen brach aus ihm heraus, während er sich den Regen aus den Augen wischte. Er hatte dem Mörder eine Falle gestellt – und nun waren alle drei Verdächtigen hineingetappt. Welche finsteren Pläne, welche Leidenschaften hatten Yanagisawa hierher getrieben,
Weitere Kostenlose Bücher