Die Rache des Stalkers
erhob sich aus ihrem bequemen Sessel. Sie amüsierte sich über die gerade von ihrer Arbeitskollegin gehörte Geschichte. Hoffentlich würde ihr Alltag nicht so chaotisch werden, sollte sie jemals Kinder haben.
Vom Wohnzimmerfenster aus warf sie einen Blick nach draußen, wo Passanten T-Shirts und kurze Hosen trugen. Der Abend schien angenehm mild zu sein. Vielleicht lohnte es sich ja noch, ihre beste Freundin anzurufen, um mit ihr auszugehen. Vorher hatte sie allerdings Wichtigeres zu tun. Julia ließ die Jalousie herunter und schlenderte ins Schlafzimmer. Mit kritischem Blick begutachtete sie die verschiedenen Kleidungskombinationen, die sie auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Links eine körperbetonte, enge Jeanshose und dazu ein ebenfalls eng anliegendes Sweatshirt. In der Mitte ein bis zu den Knöcheln reichender, schwarzer Rock, den sie mit einem weißen T-Shirt und einer hellblauen Jeansjacke kombinieren wollte. Rechts ein dezent gemustertes, dunkelblaues Baumwollkleid, das ihr gleichermaßen bis zu den Knöcheln ging. Bevor sie die einzelnen Varianten ausprobierte, legte sie ihre derzeitige Lieblings-CD in die kleine Stereoanlage.
Julia hoffte, dass der morgige Abend ein ganz besonderer werden würde. Endlich war sie wieder einmal verabredet, endlich gab es wieder einmal die Hoffnung, einen interessanten Mann kennenzulernen. Mit ihren neunundzwanzig Jahren hatte sie es satt, die Abende allein vor dem Fernseher oder bestenfalls mit Freundinnen in Kneipen oder im Kino zu verbringen. Inzwischen war sie seit einundzwanzig Monaten Single und empfand die damit verbundene Freiheit nur noch als quälend.
Da sie jedoch nicht zu dem Typ Frau gehörte, der in einer Disco oder Gaststätte den ersten Schritt wagte und einen Mann ansprach, hatte sie in dieser langen Zeit nur Kontakt zu drei Männern gehabt, die sich ihrerseits getraut hatten, sie anzusprechen. Für keinen der drei hatte sie sich letztlich erwärmen können.
Um dem Glück wenigstens ein Stück weit auf die Sprünge zu helfen, hatte sie in der Kooltur eine Kontaktanzeige aufgegeben. Nur in der Printvariante, ohne den Internetkram. Sie wollte ganz sicher nicht im World Wide Web als verzweifeltes, einsames Herz präsentiert werden. Ihre magere Ausbeute bestand in sechs Antwortschreiben. Zwei der Typen waren von vornherein durch ihr Raster gefallen: Auf einem Brief waren Kaffeeflecken gewesen, ein anderer hatte ihr ein Nacktfoto von sich mitgeschickt, obwohl ihre Anzeige keinerlei Anzüglichkeiten enthielt. Zwei weitere Interessenten disqualifizierten sich beim ersten Telefonat. Der eine hatte während eines 20-minütigen Gesprächs fünfmal »Ach ja« gesagt, dabei leise geseufzt und nichts zu ihrer Kommunikation beigetragen. Der andere hatte mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig es ihm sei, dass seine Mutter und seine Freundin gut miteinander auskommen.
Blieben also die beiden Letzten. Mit ihrem Favoriten war es zu insgesamt sieben Telefonaten und etlichen Kurznachrichten aufs Handy gekommen. Bis er ihr drei Tage vor der geplanten Verabredung geschrieben hatte, eine andere kennengelernt zu haben, wodurch ihr Rendezvous überflüssig geworden sei. Eine nette Art, abserviert zu werden, dachte sie sarkastisch.
Nun würde sie sich morgen mit dem Ersatzkandidaten treffen, mit dem sie inzwischen auch schon viermal telefoniert hatte.
Julia musterte sich in dem mannshohen Spiegel, nachdem sie in die Jeans geschlüpft war. Sie war normalgewichtig, ihr Busen war klein und straff. Ihre strohblond gefärbten Haare trug sie kurz, ihr Gesicht fand sie allenfalls durchschnittlich. Die grünen Augen schauten normalerweise durch eine Brille, doch am morgigen Abend wollte sie Kontaktlinsen tragen. Sollten sie Gefallen aneinander finden, musste er mit ihrer Sehhilfe leben.
Da ihr die Jeans-Sweatshirt-Kombination nicht völlig zusagte, probierte sie als Nächstes den Rock aus.
Einundzwanzig Monate ohne festen Freund und in dieser ganzen Zeit nur ein einziges Mal enttäuschenden Sex. Sie war durchaus bereit, Kompromisse einzugehen. Am Telefon klang er sympathisch. Vielleicht nicht so gesprächig, wie Julia sich das wünschte, aber welcher Typ war das schon? Falls er sonst keine Macken hatte, könnte das etwas werden.
Die Variante mit dem Rock gefiel ihr auch nicht, also musste es wohl das Kleid sein. Und tatsächlich. Nachdem sie es angezogen hatte, gestand sie sich zu, für ihre bescheidenen Verhältnisse attraktiv zu wirken.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, um ihre
Weitere Kostenlose Bücher