Die Rache des stolzen Griechen
angelegentlich das Muster ihres Kleides betrachtete. „Du bist immer noch ein wenig blass, selbst nach dem Brandy. Clare, wir müssen über diese Sache reden, in deinem eigenen Interesse.“
Entschieden schüttelte sie den Kopf. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er jetzt bis ins Detail analysieren wollte, was sich am Strand zwischen ihnen abgespielt hatte. „Bitte, Lazar! Ich möchte nicht darüber reden.“
„Wir müssen es aber, Clare“, beharrte er mit eindringlicher Stimme. „Es ist für uns beide wichtig.“
Plötzlich glaubte sie zu wissen, warum es für ihn so wichtig war. Sollte er doch nicht der harte, kaltherzige Mann sein, der fest entschlossen war, die Ehre seiner Schwester zu rächen? Schon gestern hatte sie eine andere Seite an ihm kennengelernt, als er sie auf diese Fahrt mitgenommen und ihr den Sonnenhut gekauft hatte. Was hatte ihn dazu veranlasst? Ihr persönliches Wohlergehen hätte ihm doch egal sein können. War er feinfühliger, als sie geglaubt hatte?
Die Hoffnung keimte in ihr auf, dass er auf seine Rache verzichten würde, wenn sie zugab, tatsächlich Angst vor Männern zu haben.
„Lazar …“, begann sie und verstummte gleich wieder. Wie sollte sie es ihm sagen? Jahrelang hatte sie das Schreckliche in sich verschlossen und nicht einmal mit ihrer Familie darüber gesprochen.
Er schien zu spüren, dass sie ihm etwas anvertrauen wollte, es aber nicht über die Lippen brachte. Wie um sie zu ermutigen, rückte er näher an sie heran und nahm ihre Hände in seine.
„Clare, wie kommt es, dass eine junge, hübsche Engländerin wie du in diesem Alter noch unerfahren im Küssen ist?“, fragte er weich.
Er merkte, wie es in ihr arbeitete. Geduldig wartete er.
Endlich begann die Mauer zu bröckeln, hinter der sie ihr düsteres Geheimnis verborgen hielt.
„Als ich fünfzehn war, bin ich von einem Mann überfallen worden“, erklärte sie ihm dann zu seinem großen Schock.
Lazar stieß einen Schwall griechischer Wörter aus, die sicher in keinem Lexikon zu finden waren. Er schloss die Finger so fest um ihre Hand, dass Clare einen Schmerzenslaut unterdrückte.
Einen Moment später hatte er sich wieder unter Kontrolle. Sein Griff lockerte sich, und seine Stimme klang wieder beherrscht. „Erzähl mir davon, Clare.“
Entsetzt schüttelte sie den Kopf. Nein, sie wollte sich nicht wieder alle Einzelheiten ihres schrecklichen Erlebnisses ins Gedächtnis rufen! „Ich kann nicht“, stieß sie gepresst hervor.
„Bitte, Clare.“ Sein zwingender Blick hatte eine beinahe hypnotisierende Wirkung auf sie. Erneut wollte sie ihm erklären, dass sie nicht darüber reden könne, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
„Bitte“, wiederholte er, und sie spürte, wie ihr Vorsatz, niemals darüber zu sprechen, mehr und mehr ins Wanken geriet.
Sie löste ihren Blick von ihm und schaute zur Seite. „Wir leben in einem ziemlich abgelegenen kleinen Ort“, begann sie mit heiserer Stimme. „Da es bei uns keine Leihbücherei gibt, kommt alle zwei Wochen die fahrbare Bibliothek zu uns. Meine Mutter hatte ein Buch ausgeliehen, auf das schon andere Leser warteten, aber sie hatte keine Zeit, es selbst abzugeben. Deshalb habe ich das Buch für sie zurückgebracht.“
Clare räusperte sich. Sie wünschte, der Rest würde ihr erspart bleiben. Sie warf einen gequälten Blick auf Lazar, doch er forderte sie zum Weiterreden auf und drückte ihr aufmunternd die Hand.
„Wie immer stand vor dem Bücherwagen eine lange Schlange“, fuhr sie zögernd fort. „Ich wartete mit einigen Freundinnen, die sich ebenfalls Bücher ausleihen wollten, und plauderte und lachte mit ihnen, wie es Mädchen in diesem Alter eben tun.“ Sie machte eine kleine Pause. „Da so ein Andrang herrschte, war mir klar, dass ich später nach Hause kommen würde, als meine Familie es erwartete. Aber ich machte mir keine Gedanken deswegen, denn ich hatte für meine Mutter ein neues Buch gefunden.“ Ihre Stimme begann zu schwanken. „Kurz vor unserem Haus ist eine dunkle Gasse …“ Clare unterbrach sich, weil ihr plötzlich ganz flau wurde. „Ich … ich war gerade in der Mitte angelangt …“ Nein, sie konnte nicht weiterreden. Es war zu furchtbar! Fest umklammerte sie Lazars Hand, ohne sich dessen bewusst zu sein.
„Du warst gerade in der Mitte angelangt“, drängte er sie sanft.
„Es … es war stockdunkel, und ich hatte keine Taschenlampe bei mir“, redete Clare nach einiger Überwindung weiter. „Plötzlich sagte
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