Die Rache ist Dein
medizinisch schmeckte. Ihre Ohren registrierten Hintergrundgeräusche: vorbeizischende Autos, gelegentliches Hupen, die Sirenen eines Krankenwagens. Das Auto, in dem sie sich befand, fuhr schnell, bremste nicht, bog auch nicht scharf ab. Wahrscheinlich waren sie auf dem Freeway. Cindys Augen waren offen, nur gab es nichts zu sehen, bloß Schatten und Dunkelheit. Ein Teil von ihr wollte sich nicht erinnern, wie es zu diesem Verhängnis gekommen war. Aber sie erinnerte sich.
Cindy wußte genau, was passiert war. Nach ihrem vergeblichen Fluchtversuch war sie ohnmächtig geworden. Da mußte er sie gefesselt und geknebelt haben. Überwältigt worden zu sein, war ein schreckliches Gefühl. Sie hatte alles getan, was sie konnte, aber es hatte nicht gereicht.
Ihr Trost war, daß sie immer noch lebte. Wenn er von Anfang an vorgehabt hätte, sie umzubringen, hätte er das längst tun können. Offenbar hatte er noch andere Dinge für sie auf Lager. Unerfreuliche Dinge ...
Der chemische Geruch stieg ihr in die Nase, machte sie duselig, vernebelte ihr aber den Kopf nicht ganz und gar. Sie konnte noch denken. Und wenn sie hier rauskommen wollte, mußte sie nachdenken.
Aus dem Autoradio erklang Countrymusik. Eine Frau sang von der Suche nach Liebe. Der Text und das beschwingte Tempo schienen sich über Cindys erbärmlichen Zustand lustig zu machen. Noch vor einer Woche hatte sie ihr mangelndes Liebesleben für ein unüberwindliches Problem gehalten. Dann war sie, erst vor wenigen Tagen, verfolgt worden und jemand hatte ihre Wohnung verwüstet. Sie hatte gedacht, daß es schlimmer nicht mehr werden könnte. Tja, das war ein Irrtum.
Was würde sie nicht dafür geben, sich über dämliche Sachen aufzuregen wie ihr Liebesleben oder blöde Kollegen oder unbezahlte Rechnungen oder ihr klappriges altes Auto. Wenn Gott ihr doch nur einen weiteren Tag schenken würde, an dem sie sich über ihre lästige Mutter oder ihren überbesorgten Vater ärgern konnte. Nur einen Tag, um zu telefonieren, ein Sandwich zu essen, ihre Uniform anzuziehen oder aufs Klo zu gehen.
Ohne es wahrzunehmen, liefen ihr die Tränen über die Wangen, wurden vom Stoffknebel aufgesogen. Inzwischen spürte sie auch den Knebel, der ihr die Lippen auseinanderzwängte und hinter ihrem Kopf zusammengebunden war. Sie war ihrem Entführer dankbar, daß er ihr nicht das Gesicht verklebt hatte und sie ohne Schwierigkeiten atmen konnte. Und noch etwas machte sie dankbar: ihre Hände waren mit einem Strick gefesselt, nicht mit Handschellen. Das überraschte sie. Sie hätte ihn für einen Handschellenmann gehalten.
Was sie auf den Gedanken brachte, daß er ihr vielleicht ... nicht allzusehr weh tun wollte. Aber das konnte Wunschdenken sein. Doch er hatte sie nicht umgebracht, als er die Möglichkeit dazu hatte. Und er mußte viele Möglichkeiten gehabt haben, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, daß er sie gefesselt hatte ... »Bist du wach, Decker?«
Seine Stimme drang in ihr Bewußtsein, machte sie augenblicklich hellwach. Sie hätte die Zeit nutzen sollen, um Pläne zu schmieden. Statt dessen hatte sie frei assoziiert — toll, wenn sie in Therapie gewesen wäre, aber mehr als schlecht, weil sie entführt worden war und womöglich gefoltert werden würde.
»Ich weiß, daß du wach bist. Ich hör's an deinem Atem. Komm schon Officer Decker. Gib mir ein Lebenszeichen. Ein Grunzen reicht.«
Sie hätte grunzen, hätte ihm irgendein Zeichen geben können. Vielleicht hätte sie das tun sollen.
Ihn ermutigen und zum Reden bringen sollen. Doch sie sagte nichts, tat nichts.
Er wartete. Sie blieb ganz starr, aus Angst, aus Trotz.
»Ich weiß verdammt gut, daß du mich hören kannst, Decker.
Ich will dir was sagen, Officer. Du bist nicht in der Position zu bluffen, also hör auf mit dem Scheiß und antworte mir.«
Wenn sie ihm kein Zeichen gab, tat er ihr wahrscheinlich weh. Er war es gewöhnt, Befehle zu erteilen, denen man gehorchte. Jetzt zahlte sie den Preis dafür, seine absolute Autorität in Frage gestellt zu haben. Als sie nicht reagierte, drehte er sich prompt um und gab ihr eine Ohrfeige. Nicht mal eine feste. Aber weil alles wund war, vermutlich von den Schlägen, die er ihr bereits gegeben hatte, brannte ihr Gesicht wie Feuer. Am liebsten wäre sie wieder ohnmächtig geworden. Statt dessen stöhnte sie.
»Das war doch nicht so schlimm, Decker. Nur ein liebevolles Tätscheln! Reiß dich zusammen!« Dann: »Weißt du was, Decker? Bei deinem Verstand und
Weitere Kostenlose Bücher