Die Rache ist Dein
helfen. Wir warten, bis Sammy weg ist. Ein Kind weniger zu füttern.«
Cindy lächelte. »Im Gegensatz zu Kindern, die nicht essen?«
»Wie deine Schwester.«
»Wo ist sie?«
»Schaut sich ein Video an.«
»Soll ich sie begrüßen?« Rina betrachtete ihre Stieftochter. »Laß dir Zeit.«
Klimpernde Autoschlüssel in der einen Hand, einen Packen Handzettel in der anderen, betrat Sammy das Wohnzimmer. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Sein sandfarbenes Haar war feucht und wirkte viel dunkler. Das meiste war unter einer schwarzen Samtjarmulke verborgen. Er griff nach einem Kissen, warf es auf Cindy. »Hey, Rotschopf.« Cindy fing es mit einer Hand auf. »Hey.« Sammy war gewachsen und jetzt über einsachtzig. Mit seinen knapp achtzehn Jahren war er beinahe ein Mann. Und ein gutaussehender dazu. Cindy merkte, wie matt ihre Stimme klang, versuchte, das mit einem freundlichen Lächeln auszugleichen. Was ihr auch nicht gelang.
Sammy beäugte seine Stiefschwester. »Schwerer Tag?«
»So ähnlich.«
»Davon kannst du mir beim Essen erzählen. Ich muß das hier noch vor dem Schabbes in die Synagoge bringen.« Er hielt die Handzettel hoch. »Eine Abhandlung über den Thoraabschnitt für diese Woche, der von verschiedenen Opfern handelt. Nicht gerade ein leichter Text, aber ich habe es phantastisch hingekriegt. Willst du's lesen?«
»Versteh ich das denn?«
»Na klar. Ich schreibe nicht nur brillant, sondern auch knapp und klar.« Cindy lachte. »Ich wollte wissen, ob es auf englisch oder hebräisch ist.«
Sammy reichte ihr die Zettel. »Hauptsächlich auf englisch, und die paar hebräischen Sachen sind übersetzt.« Er wandte sich an seine Mutter. »Hast du es gelesen, Ima?«
»Nein.«
Sammy gab ihr das Blatt. »Der konkrete Beweis, daß die Tausende von Dollar für die jüdische Tagesschule nicht verschwendet sind.«
»Wann kommst du zurück?« fragte Rina. »Es ist Viertel vor sechs.«
»Wann zündest du die Kerzen an?«
»Um Viertel nach sechs.«
»So wie ich fahre, reicht das dicke. Außerdem ist Dad auch noch nicht zu Hause.«
Rina funkelte ihn an. »Was hat das mit dir zu tun?«
»Überhaupt nichts. Bis dann.« Sammy knallte die Tür hinter sich zu. Rina zuckte zusammen. »Bestimmte Dinge werde ich nicht vermissen, wenn er weg ist.« Sie merkte, daß ihr Tränen in die Augen stiegen, und schaute zu Boden. »Nimm das Telefon in unserem Schlafzimmer, Cin. Da ist es ruhiger.«
»Danke. Wo ist euer Schlafzimmer?«
»Am Ende des Flurs. Mit Blick auf das Unkraut hinter dem Haus. Gartenarbeit hatte bisher keine Priorität.«
»Der Vorgarten sieht prima aus.«
»Aber nur, weil da all diese wundervollen Eichen und Platanen stehen.« Ein Küchenwecker klingelte. »Meine Plätzchen rufen. Komm in die Küche, wenn du fertig bist. Das löst zwar deine Probleme nicht, aber es riecht wenigstens gut.«
Cindy nickte, fühlte sich aufgehoben und zumindest ein bißchen besser. Sie ging den Flur entlang, dessen Wände mit Fotos und Hannahs Zeichnungen aus der Vorschule dekoriert waren. Die Tür auf der linken Seite vibrierte in dumpfen Baßrhythmen - das Zimmer der Jungs. Durch die geschlossene Tür auf der anderen Seite drang das hohe Quieken einer Cartoonfigur — Hannahs Zimmer.
Cindy betrat das Elternschlafzimmer am Ende des Flurs. Den größten Teil des Raumes nahmen ein Einzelbett und ein Doppelbett ein, nebeneinander geschoben. Trotz der Größe ihres Vaters wußte Cindy, daß das nicht der Grund für diese seltsame Zusammenstellung war. Es hatte was mit der jüdischen Vorstellung von religiöser Reinheit zu tun. Rina hatte versucht, ihr das zu erklären, aber Cindy hatte nur mit halbem Ohr zugehört; Fruchtbarkeitsriten interessierten sie nicht sonderlich. Wenn sie bei der Familie ihres Vaters zu Besuch war, fühlte sie sich, was die Religion betraf, ein bißchen verloren, als wäre sie spirituell unterlegen. Was nicht an Rinas Verhalten lag, eher daran, daß ihre sechsjährige Schwester besser Hebräisch lesen konnte als sie. Hannah war damit aufgewachsen und ein kluges Kind, das wußte Cindy, aber sie kam sich trotzdem ignorant vor. Oft spürte sie, daß ihr Vater, christlich erzogen und erst seit acht Jahren bewußt Jude, ähnliche Gefühle hatte. Aber er verbarg es gut. Wenn er den kiddusch sang — die rituelle Segnung des Weins für das Sabbatmahl - klang sein Hebräisch fehlerlos.
Das Telefon stand auf Rinas Seite. Cindy setzte sich aufs Bett und versank in der flauschigen
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