Die Rache. Thriller.
Wut fast körperlich, und das gab ihm Kraft. Wie oft hatte er vor Gericht ähnliche Szenen erlebt.
Delinquenten, die sich nach der Urteilsverkündung am liebsten auf ihn gestürzt hätten. Er hatte sie immer mit seinen Blicken gezähmt, und jetzt fixierte er Bill Lewis in derselben unerschrockenen Weise. Wie viele Ausfälle vor Gericht hatte er damit nicht verhindert! Seine Augen wurden schmal, seine Kiefer spannten sich, altgewohnte Gesten, vertraut wie ein altes Paar Schuhe, das man lange nicht mehr getragen hat.
Olivia hatte ihm erzählt, wie fahrig und schwach Bill Lewis sei. Sie hatte ihn offensichtlich unterschätzt.
»Ihre Kinder! Sie haben mich auf dem Gewissen!« schrie er.
»Warum, weil sie es besser getroffen haben? Sie haben niemanden auf dem Gewissen.«
»Sie haben doch keine Ahnung, Sie Schwein!«
»Ich weiß nur, daß Sie unrecht haben und noch immer Unrecht tun!«
»Abgedroschene Herrschaftsmoral!«
»Abgedroschene Revoluzzersprüche!«
Bill war kurz davor, dem Richter einen Hieb zu versetzen. Dann drehte er sich um sich selbst, lief im Zimmer auf und ab und blieb an der gegenüberliegenden Wand stehen, genau an der Stelle, die sie bearbeitet hatten.
Tommy erstarrte und stöhnte leise.
Es sah so aus, als blicke Lewis auf die losgemachten Bretter. Der Richter konnte von seinem Platz aus deutlich die Spuren von Tommys Arbeit erkennen. Verräterische Holzsplitter lagen auf dem Boden. Pearson erstarrte und wußte kein Wort zu sagen.
Plötzlich sagte Tommy in die Stille: »Warum bist du nicht einfach nach Hause gegangen?«
»Was?« Bill fuhr herum und zitterte immer noch vor Wut.
»Warum du nicht nach Hause gegangen bist.«
»Das konnte ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Nach Hause?« Bill Lewis lachte bitter. Nur mit Mühe beherrschte er seine Wut. Dann wurde er plötzlich ruhig.
»Ich hätte mir nichts mehr gewünscht, als nach Hause zu gehen, Tommy. Aber ich hatte kein Zuhause so wie du.«
Er kehrte zum Bett zurück, sah auf das Tablett mit den Sandwiches und fragte: »Kann ich eins haben?«
»Gewiß«, sagte der Richter.
Lewis nahm einen großen Bissen. Dann sagte er zu Tommy:
»Ich hab’ das nicht gehabt, ein Zuhause.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Meine Eltern wollten mit mir und Emily nichts zu tun haben. Mein Vater war Berufsoffizier. Rekruten drillen, das war alles, was ihn interessierte. Er mochte keine langen Haare, keine Intellektuellen, keine radikalen politischen Ideen, aber ich, ich mochte das alles sehr.« Er lächelte. »Vor allem die langen Haare.«
Er faßte nach der roten Narbe an seinem Hals und fuhr dann fort: »Als ich sieben war, hat mein Vater mich am Hals verletzt. Da sieht man noch die Spuren. Ich war damals ungefähr so groß wie du, Tommy. Ich sollte irgend etwas tun, er stand neben mir mit einem Koppel in der Hand. Und als ich nicht gehorchte, schlug er zu. So!«
Lewis klatschte die Hände zusammen. Beide Tommys erschraken. »Meine Mutter rief die Militärpolizei, als sie all das Blut sah. Ich wurde ins Lazarett gebracht, genäht, und damit hatte sich’s.«
Lewis grinste. Nach einer Pause fuhr er fort: »Wir alle haben unsere Wunde, nur diese hier fällt am meisten auf.«
Richter Pearson gab ihm recht. Die beiden Männer aßen schweigend, die Atmosphäre hatte sich beruhigt. »Gute Sandwiches machen Sie immerhin«, sagte der Richter.
»Man muß wohl dankbar sein.«
Bill Lewis nickte. »Ich muß mich wirklich entschuldigen wegen der ganzen Sache«, sagte er. »Ich habe wirklich nichts gegen Sie oder gegen Tommy. Aber ein Plan muß bis zum Ende durchgehalten werden. Man muß das Verfahren konsequent durchziehen. Das wissen Sie sicher besser als jeder sonst. Vor Gericht ist es doch auch so, oder?«
Pearson schluckte den Bissen, an dem er gerade kaute, und sagte: »Das stimmt schon. Waren Sie mal in einer Verhandlung?«
»Nee. Außer bei einem Verkehrsdelikt in Miami. Aber ich habe Glück gehabt. Wissen Sie, das Verrückte ist, damals, achtundsechzig, als wir alle in der Brigade waren, wollte ich, daß Duncan und Megan ausgeschlossen werden. Sie hatten nicht das Zeug zu solchen Sachen. Sie konnten mit unseren Ideen und Aktionen im Grunde gar nichts anfangen. Hätte ich mich bloß durchgesetzt!«
»So ist das im Leben. In mindestens sechzig Prozent der Fälle, die ich behandelt habe, waren die Leute an einem Punkt, an dem sie alles hätten anders machen können, wenn irgendwas Bestimmtes passiert wäre. Aber eben das passierte nicht, und so
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