Die Rache
ins Kino gegangen war, konnte sie die Leihgebühr nicht mehr aufbringen.
Johnny, der ihr Freund und Beschützer gewesen war, als man sie noch ›die Nase‹ genannt hatte, sagte, er könne für ein paar Wochen mit Hilfe der Gebühren anderer Kunden für sie aufkommen. Aber weil das riskant sei, brauche er irgendeine Bezahlung, ein Zeichen des guten Willens.
Aber sie besaß nichts.
Da legte er seine Hand dorthin, wo sie noch niemand zuvor berührt hatte, und sagte, das sei mehr als hundert pro Woche wert.
Erschrocken über diesen neuen Johnny riß sie sich los. Sie sah die Hand nicht, die so hart auf sie niedersauste, daß sie glaubte, er habe ihr das Gesicht zerbrochen. Dann lag er auf ihr.
Sie erinnerte sich daran, wie er ihr hinterher erklärt hatte, sie habe keine Wahl, denn irgend jemand müsse die Gebühr aufbringen. Er wolle nicht, daß man sie verletze, und könne sie beschützen. Er habe sie nicht geschlagen, weil er wütend auf sie sei, nein, er sei nicht wütend auf sie, aber sie müsse sich der Realität stellen. Er sei ihr Freund …
»Oh, oh, Jesus, Maria und Josef …« Jedes Mal, wenn er kam, wiederholte Johnny LaGuardia diese Litanei. Er fiel in sich zusammen und auf ihren Rücken, schlang die Arme um sie.
Sie fühlte sein Gewicht auf sich und begann zu weinen. Sie würde niemals in der Lage sein, die Gebühr zu bezahlen. Das hier würde nie ein Ende haben.
In Franks Extra Espresso Bar in Vallejo sang Umberto Tozzi aus der Musikbox Ti amo und hörte sich an wie ein italienischer John Lennon. Ti amo war Angelo Tortonis Lieblingslied, und jedesmal, wenn er hier war, spielte er es mindestens eine Stunde lang. Falls es jemanden störte, so sagte er es jedenfalls nicht.
Die Folge war, daß niemand sonst das Lied noch spielte. Alle Stammkunden, der Besitzer Sal Calcagno, die Kellnerinnen, sie alle hatten Ti amo bis zum Erbrechen satt.
Es war ein gutes Lied, und für lange Zeit war es auch Johnny LaGuardias Lieblingslied gewesen. Aber als er jetzt vom Bürgersteig hinter dem Zaun nach oben kam, vorbei an den Paaren, die Espresso oder Cappuccino, Peroni -Bier oder Fruchtsaft tranken, war er nicht allzu begeistert, es zu hören, denn das bedeutete, daß der Engel bereits wartete und er keinen der Jungs mehr fragen konnte, warum er schon wieder hierher bestellt worden war.
Nicht, daß er sich allzu viele Sorgen machte – Mr. Tortoni war sein Taufpate. Aber er war gleichzeitig sein Arbeitgeber und gewiß niemand, der diese beiden Rollen verwechselte. Über diesen Vorfall letzte Nacht – als Johnny Ingrahams Verschwinden erklären mußte und sechshundert Dollar zuwenig mitgebracht hatte – war Mr. Tortoni nicht glücklich gewesen. Was Johnny verstehen konnte. Er war selbst nicht glücklich darüber – er hatte noch nie zuwenig gebracht. Aber er hatte geglaubt, es plausibel erklärt zu haben.
Wie immer saß Mr. Tortoni im hinteren Teil des Raumes allein an seinem kleinen, weißen Tischchen an der Wand unter dem Poster des Schiefen Turms von Pisa. Zwei der anderen Jungs spielten Billard. Johnny nickte ihnen zu, dann begrüßte er Mr. Tortoni, der an seinem Espresso nippte und ihn mit einer Geste anwies, sich neben ihn zu setzen.
»Kann ich dir etwas bestellen, Johnny?« fragte er auf italienisch.
Es war immer wieder erstaunlich, wie leise der Engel sprach, wie klein und zerbrechlich er wirkte. Aber Mr. Tortoni hatte Johnny gelehrt, daß man nicht laut sprechen mußte, um gehört zu werden, daß Körperkraft nur ein kleiner Bereich der Macht war.
Johnny merkte, daß seine Kehle trocken war, und erklärte, er hätte gern einen Mandarinensaft. Mr. Tortoni flüsterte etwas hinüber zu Sal Calcagno hinter der Theke, und zwei Sekunden später stand das Getränk vor ihm.
»Sie wollten mich sprechen?«
Mr. Tortoni stellte seine Tasse ab und spielte einen Moment lang mit seiner kurzen Zigarre. Dann führte er sie zum Mund, und Johnny zündete sie an. »Du bist beschäftigt gewesen, nicht wahr?« fragte er.
»Ja«, erwiderte Johnny. »Ich habe versucht …«
»Dann ist es vielleicht … nein, nicht vielleicht. Ich bin sicher, es ist ein Versehen.«
Johnny wartete, während Mr. Tortoni schwieg und rauchte. Johnny trank einen Schluck Sirup. Hinter ihnen klickten Billardkugeln. Ti amo war verklungen, Love Will Keep Us Together begann. Mr. Tortoni machte eine Geste hinüber zu Sal Calcagno, der zur Musikbox ging und das Lied abbrach, noch ehe Toni Tenille ›Jetzt gehörst du zu mir‹ verkünden
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