Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
war windig, und
das Thermometer kletterte in Richtung 38 Grad. Wie immer beim Zeitfahren gingen
die Fahrer einer nach dem anderen einzeln auf die Strecke. Ich war unter den
Letzten, die sich auf den Weg machten, ebenso Ullrich, Jekimow, Bobby Julich
und der Australier Michael Rogers. Der Kurs führte über zwei 24-Kilometer-Runden
in der Nähe eines Städtchens namens Vouliagmeni am Meer entlang. Man sah kleine
Häuser, schmale Straßen und Segelboote. Wenn ich die Augen ein bisschen
zusammenkniff, konnte ich fast glauben, ich wäre zu Hause in Marblehead.
Ich startete gut, rollte die Startrampe hinunter und brachte den
Motor auf Touren. Wie üblich ging auch etwas schief: In der Hitze hielt das
Klebeband nicht, das das Funk-Headset in meinem Ohr fixieren sollte, deshalb
zog ich das Ding einfach raus. Einen Augenblick lang baumelten die Drähte neben
meinen Speichen, und ich dachte: Oh, oh, nicht schon wieder. Aber dieses eine Mal waren die Unfallgötter auf meiner Seite. Die Drähte fielen
auf die Straße, ohne Schaden anzurichten. Ich machte mich an die Arbeit und
konzentrierte mich auf die drei Fahrer vor mir: Jekimow, Julich und Rogers
(Ullrich, der nach mir startete, hatte nicht seinen besten Tag erwischt; er
wurde Siebter). Ich fuhr gern ohne Headset, und ohne die Zwischenzeiten zu
kennen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Geräusch des Windes und das
Zischen der Reifen auf dem heißen Asphalt. Nach meinem Gefühl lief es gut für
mich – Teufel noch mal, ich wusste , dass es gut
lief. Aber ich wusste noch nicht, ob es reichen würde.
Beim Überqueren der Ziellinie registrierte ich vage, dass die große
Menschenmenge verrückt spielte. Dann sah ich Haven, sah ihr strahlendes
Lächeln, das jetzt immer heller strahlte.
Gold.
Mit einem Schlag war bei uns die Hölle los. Unsere Telefone standen
vor lauter Glückwünschen und Angeboten nicht mehr still. Zu Hause in
Marblehead, so hörte ich, waren die Leute völlig aus dem Häuschen. Ich stellte
mir meine Eltern vor: meinen Vater, wie er jeden Menschen in Reichweite
umarmte; meine Mutter, stiller und zurückhaltender, aber mit Augen, die vor
Stolz glänzten.
Tyler Hamilton, Olympiasieger, Gewinner der Goldmedaille.
In der folgenden Nacht wollte ich die Medaille gar nicht mehr
abnehmen. Sie fühlte sich so gut an, sah so schön aus. Ich legte die Medaille
auf unseren Nachttisch, wachte mitten in der Nacht auf und nahm sie in die
Hand, um mich zu vergewissern: Nein, das war kein Traum.
Mein Agent bekam eine Menge Anrufe: Sponsoren, Talkshows,
Vortragsangebote. In Athen boten mir Unternehmen im Rahmen von Olympia Geld nur
dafür, dass ich mich ein paar Stunden in einem ihrer Sponsorenzelte zeigte.
Verrückt, dort eine oder zwei Stunden herumzustehen, mit Leuten zu plaudern und
dafür auch noch bezahlt zu werden. Aber ich nahm den Scheck. Wenn sich Schuldgefühle
einstellten, unterdrückte ich sie, indem ich mir selbst all die üblichen
Argumente aufsagte. Es herrschte Chancengleichheit. Ich habe
am härtesten gearbeitet, und derjenige, der am härtesten arbeitet, gewinnt.
Nach allem, was ich durchgemacht habe, habe ich diesen Sieg verdient.
Immer wieder berührte ich die Medaille, fuhr mit den Fingerspitzen
darüber, spürte das Gewicht in meiner Hand, brachte es nicht fertig, sie
beiseitezulegen. Ich glaube, das Schönste daran war das Gefühl der
Dauerhaftigkeit. Der Gewinn einer Goldmedaille, das war etwas, was einem
niemand wegnehmen konnte.
Ich bekam gerade eine Massage, als ich die Tür quietschen
hörte. Als ich die Augen öffnete, sah ich in das todernste Gesicht meines
Sportlichen Leiters Álvaro Pino und lächelte ihn an, aber er schien das gar
nicht zu bemerken.
»Tyler, ich möchte dich sprechen, wenn du hier fertig bist«, sagte
er nur.
Das war 29 Tage nach den Olympischen Spielen, und ich hielt mich mit
dem Phonak-Team gerade in einem Städtchen irgendwo in der spanischen Provinz
Almería auf. Haven war zur Hochzeit einer Freundin in die Staaten geflogen;
mein Team hatte mich gebeten, bei der Spanien-Rundfahrt mitzufahren. Ich war
gut in Form und hatte jetzt die Chance, mein Comeback mit dem ersten Sieg bei
einer großen Rundfahrt zu krönen. Bisher war es ganz ordentlich gelaufen. Ich
hatte eine Etappe gewonnen, aber in den Bergen etwas Zeit verloren, deshalb
nahm ich an, dass Álvaro über die Rennstrategie sprechen wollte.
Nach der Massage stand ich auf, zog mich an und ging sofort zu
Álvaros Zimmer. Er sagte, ich solle
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