Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
»Bullshit«, und er nannte mich »Alter«.
Man hätte denken können, Novitzky hasse Lance, aber wenn er über
Lance sprach, war Novitzky immer nur der coole Profi. Er wurde nie emotional
und äußerte auch nie seine Meinung zu Lance’ Charakter, schimpfte oder fluchte
auch nie über ihn. Ich weiß, dass Novitzky im Grunde Mitleid mit Dopern hat. Er
hatte ausreichend viele von uns kennengelernt, um zu realisieren, dass die
meisten von uns keine schlechten Menschen waren. Zumindest für meine Situation
hatte er viel Verständnis. Aber hatte er dasselbe Verständnis auch für Lance?
Ich glaube nicht. Wenn Lance’ Name fiel, wurde Novitzky kühl, sachlich,
fokussiert. Ich glaube, ihm missfiel, wofür Lance stand: die Vorstellung, dass
ein Mensch seine Macht nutzen konnte, um die Regeln zu brechen, die Welt zu
belügen, Millionen zu verdienen und ungeschoren davonzukommen.
Im März meldeten sich die Produzenten von 60 Minutes bei mir, die an einem größeren investigativen Beitrag über
Armstrong arbeiteten. Sie verfügten über Informationen, nach denen bald Anklage
gegen ihn erhoben werden sollte. Die Produzenten meinten, ein Auftritt bei 60 Minutes sei eine gute Gelegenheit für mich, um meine
Version der Geschichte zu erzählen. Ich zögerte ein paar Wochen und erklärte
mich dann bereit, Mitte April nach Kalifornien zu fliegen und mich mit einem
Reporter von 60 Minutes und Scott Pelley, dem
Moderator der CBS News, für ein Interview
zusammenzusetzen. Vorher aber musste ich erst noch etwas anderes erledigen,
etwas, vor dem ich Angst hatte: Ich musste meiner Mutter die Wahrheit sagen.
Meinem Vater hatte ich bereits alles erzählt. Während eines Besuchs
bei meinen Eltern Anfang des Jahres war es eines Abends einfach aus mir
herausgeplatzt. Mein Vater hatte mir zunächst nicht geglaubt – und dann
plötzlich doch. Als echter Hamilton versuchte er, sich nichts anmerken zu
lassen, aber ich sah den Schmerz auf seinem Gesicht. Ich hätte ihm genauso gut
ein Messer in den Leib stoßen können. Wir sprachen ausführlich darüber, und als
er von der Untersuchung und der bevorstehenden Anklage hörte, sah er den Sinn
darin. Er hatte verstanden und gesehen, wie viel besser es mir ging. Trotzdem
hatte Dad vorgeschlagen, Mom erst einmal nichts davon zu erzählen, und ich
hatte zugestimmt.
Aber jetzt konnte ich es nicht mehr länger aufschieben. Mein
Interview sollte in wenigen Tagen stattfinden. Bei einem Familientreffen im
Haus meiner Eltern in Marblehead war der Moment schließlich gekommen. Ich war
nervös, zitterte fast und wartete auf den richtigen Moment. Ich fühlte mich wie
bei einem Sturz, wenn man noch immer fällt und nichts mehr dagegen tun kann.
Also tat ich, was ich in solchen Situationen immer tat: Ich schloss die Augen
und bereitete mich auf den Aufprall vor.
Gegen Ende der Feier waren alle mit dem Schokoladenkuchen
beschäftigt, und es gab eine kleine Gesprächspause. Ich holte tief Luft. Jetzt.
»Es gibt da etwas, das ich euch erzählen muss, Leute. Etwas
Wichtiges.«
Die erste Reaktion war ein Lächeln. War Lindsay schwanger? Dann
sahen sie den Ausdruck auf meinem Gesicht und erstarrten.
»Ich hätte es euch allen schon lange erzählen sollen.«
Ich glaube, tief drinnen wussten sie, was kommen würde. Unbewusst
hatten sie es wahrscheinlich die ganze Zeit gewusst. Aber das machte es nicht
einfacher. Sie hatten über die Jahre alle so hart für mich gearbeitet, mich
verteidigt, mich geliebt. An mich geglaubt.
Ich begann zu erzählen, kam dann aber ins Stocken, als ich in die
Augen meiner Mutter blickte, die sich mit Tränen füllten. Ich holte ein paarmal
tief Luft und sah zur Seite. Ich sprach schnell und so sachlich ich konnte. Ich
erzählte ihnen von der Untersuchung und dem Prozess und dass alle Geheimnisse
herauskommen würden. Ich erzählte ihnen, dass ich die Wahrheit für mich selbst
sagen musste, und für den Sport. Ich erzählte ihnen, dass man manchmal, bevor
man weitergehen kann, erst einmal einen Schritt zurückgehen muss. Ich erzählte
ihnen, dass ich ihnen noch so viel sagen wollte, dass ich wusste, sie könnten
es jetzt nicht wirklich verstehen, aber dass ich hoffte, dass der Tag kommen
würde, an dem sie es konnten. Dann nahm mich meine Mutter in die Arme.
Ich fühlte ihre Umarmung und wusste: Es war ihr nie wichtig gewesen,
ob ich die Tour gewann oder Letzter wurde. Ihr war nur eine Sache wichtig.
Jetzt fragte sie mich danach: »Geht es dir gut?«
Ich lächelte als
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