Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
das noch nicht erkannt. Fährt man
mit einer Transfusion, dann liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, sämtliche
Warnsignale, all die üblichen Grenzen außer Acht zu lassen. Man muss über sich
hinauswachsen, über den Punkt hinaus, an dem man schon tausendmal gescheitert
ist – und auf einmal funktioniert es. Nein, da überlebt man nicht nur einfach,
man stellt sich den Gegnern, geht in die Initiative, diktiert das Rennen.
Nun, da ich meine medizinischen Vorgaben weitgehend realisiert
hatte, konnte ich den Unterschied spüren. Nach meiner Transfusion hatte ich
drei bis vier Prozent mehr Energie, das heißt, 12 oder 16 Watt mehr; die
maximale Herzfrequenz war von 175 auf 180 Schläge pro Minute angestiegen. Und
diese fünf Herzschläge mehr pro Minute machten den Unterschied.
Die Begeisterung darüber, auf diese ganz neue Weise im Rennen zu
sein, wog den Schmerz in der Schulter auf, die wie verrückt wehtat. Es war ein
tiefer, intensiver Schmerz, als hätte mir jemand einen Schraubenzieher in die
Schulter gerammt und versuchte jetzt, ihn wieder herauszuziehen. Der
Adrenalinschub durch das Geschehen im Giro half für eine Weile, aber danach
blieb mir nur der Schmerz. Deshalb fing ich an, die Zähne zusammenzubeißen.
Zuerst war es lediglich ein Reflex, keine Absicht. Aber mit der Zeit stellte
ich fest, dass es half, wenn ich sie richtig fest zusammenbiss und spürte, wie
ein Zahn auf dem anderen rieb. Ich weiß, es klingt seltsam, aber wenn ich die
Zähne zusammenbiss, war ich abgelenkt, eine Art Kontrolle. Wie meine
Zahnarztrechnung dann später bewies, hatte ich es wahrscheinlich übertrieben
(ich brauchte elf Kronen). Aber es hatte funktioniert.
Um ein Haar hätte ich den Giro d’Italia gewonnen. Doch auf der
letzten Bergetappe, drei Kilometer vor dem Ziel, war die Kraft plötzlich wie
abgeschnitten, und ich machte schlapp – Hungerast. Am Ende landete ich
hinter dem Italiener Paolo Savoldelli, Spitzname »der Falke«, auf dem zweiten
Platz. Ich hatte einen klassischen Fehler gemacht: mich so gut und so stark
gefühlt, dass ich vergessen hatte, ausreichend zu essen. Cecco meinte später,
dass ich vermutlich nur ein 100-Kalorien-Energie-Gel vom Sieg entfernt gewesen
war. Das war eine wertvolle Lektion, ein Sinnbild auch für die Komplexität
unseres Sports. Da plant man monatelang, riskiert Gefängnis und Skandale,
trainiert härter als jemals zuvor, und am Ende verliert man, weil man nicht
genug gegessen hat.
Trotzdem war dieser zweite Platz bei einer großen Landes-Rundfahrt
wie eine Rehabilitierung, Beweis genug, dass Bjarne mich zu Recht als
Mannschaftskapitän unter Vertrag genommen hatte. Umgehend wurde ich in die
Reihe der aussichtsreichen Sieg-Anwärter bei der Tour de France katapultiert.
Bei meiner Ankunft in Girona entdeckte ich mein Foto auf der
Titelseite des ProCycling -Magazins – »Tyler meldet
Anspruch an«, lautete die Schlagzeile, und darunter stand ein Zitat von mir:
»Gegen Lance zu fahren – kein Problem.«
Stimmt.
10
GANZ OBEN
Unter anderem lernte ich 2002 auch, dass es nicht ganz
einfach war, im selben Haus wie Lance zu leben. Die Wände waren zwar dick wie
Gefängnismauern, aber dennoch hellhörig – Geschirrklappern, Türenschlagen,
Stimmen, man bekam einfach alles mit. Der Innenhof, in dem Lance seine
Fahrradwerkstatt hatte, wirkte wie ein Verstärker. Lance redete immer ziemlich
laut; und wenn er sich dort aufhielt, verstanden wir jedes Wort. Begegneten wir
uns zufällig, so tauschten wir ein paar Nettigkeiten aus – na,
wie läuft’s denn so, Kumpel? Manchmal machte er eine kleine Bemerkung,
um mir zu zeigen, dass er wusste, was ich hinter verschlossenen Türen tat – na, wie war’s denn in Madrid? –, aber
ich ignorierte es immer und ging einfach weiter.
Sowie ich bei CSC anfing, veränderte ich
mein Leben in Girona. Ich trainierte nicht weiter mit meinen alten Freunden vom
Postal-Team (was unter normalen Umständen, ohne Lance, durchaus vertretbar
gewesen wäre); stattdessen fuhr ich alleine oder manchmal auch gemeinsam mit
Levi Leipheimer, einem ruhigen, entschlossenen Mann aus Montana, der beim
niederländischen Rabobank-Team unter Vertrag war. Ich mied das Café gegenüber
unserem Haus und hing auch nicht im Innenhof herum. Statt mich mit dem Klatsch
und Tratsch des Gruppentrainings zu beschäftigen, konzentrierte ich mich jetzt
auf meine eigenen Werte und Ziele. In Lance’ Gegenwart verhielt ich mich wie in
der Nähe eines Pitbull-Terriers: Bewege dich
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