Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
blieb auf dem
Siegertreppchen. Das bewies erstens, dass die UCI ihre Strafandrohungen immer noch nicht besonders ernst meinte, und dass es
zweitens möglich war, während der Tour ganze Schiffsladungen Dopingmittel
einzunehmen, solange die Dosen so klein blieben, dass man noch durch die Tests
kam.
Für mich lief die Tour de France ziemlich gut. Als ehemaliger
Teamkapitän beim Giro d’Italia hatte ich jetzt die Aufgabe, die Leader Laurent
Jalabert aus Frankreich und Carlos Sastre aus Spanien zu unterstützen. Ich
genehmigte mir zwei BB s und fuhr die Rundfahrt in der
Spitzengruppe mit; in der Gesamtwertung kam ich auf einen mehr als respektablen
fünfzehnten Platz. In der Hauptsache aber sah ich zu und lernte.
Wenn ich Lance bei der Tour verfolgte, fragte ich mich
unwillkürlich, welche Methoden er inzwischen wohl einsetzte. Eine Menge wusste
ich schon – ich vermutete eine Kombination aus Bluttransfusionen und EPO in Mikrodosen. Aber das erklärte nicht alles, zum
Beispiel Lance’ starke Leistungssteigerung jedes Jahr im Juli. Es war jedes
Jahr so: Einen Monat vor der Tour fuhr er noch mit seiner (für ihn) ganz
normalen Leistung. Dann stieß er innerhalb von zwei, drei Wochen plötzlich in
eine völlig andere Liga vor und verbesserte sich um drei oder vier Prozent. Bei
der Tour 2002 war das so auffällig, dass seine Überlegenheit fast schon
peinlich wurde.
Er zeigte sie bei der 15. Etappe, bei der Bergankunft im
Skiferienort Les Deux Alpes. Kurz vor dem Ziel machte der ausgewiesene
spanische Kletterspezialist Joseba Beloki sich auf, den Etappensieg zu
erkämpfen. Beloki bricht also erfolgreich aus, setzt sich an die Spitze und hat
nicht einmal mehr einen Kilometer bis zur Ziellinie, aber man sieht, welch
furchtbaren Preis er dafür bezahlt: Er kollabiert fast, verdreht die Augen, die
Schultern sind verkrampft, der ganze Kerl in tiefer Agonie – so wie es bei
jedem anderen auch wäre.
Dann aber kommt hinter Beloki plötzlich Lance angeschossen – wie ein
Motorradpolizist! Sein Mund ist geschlossen, seine Augen hinter der
Sonnenbrille blicken sich ruhig nach etwaigen Verfolgern um. Er sieht wirklich
aus, als wolle er Beloki gleich an den Straßenrand winken und ihm einen
Strafzettel verpassen. Es war wie in Sestriere 1999 – Lance, der Radfahrer vom
anderen Planeten. Die ganze Tour über ging das so: Lance gewann vier Etappen,
kam nie auch nur ansatzweise in Schwierigkeiten und errang den Gesamtsieg mit
einem Vorsprung von 7 : 17 Minuten auf Beloki. Kein anderer kam dem auch nur
nahe.
Für mich blieb die Frage, wie er es anstellte. Lance hatte seine
Methoden immer geheim gehalten; selbst damals, als Kevin und ich noch zum
inneren Kreis gehörten, hatten wir immer das Gefühl, es gebe da noch einen
inneren Kreis, von dem wir keine Ahnung hatten.
Wie ich wusste, flog Lance immer kurz vor der Tour in die Schweiz,
um dort einige Wochen mit Ferrari zu trainieren. Ich hatte außerdem eine
Ahnung, dass der unverrückbare Mittelpunkt jeglicher Methode, die Ferrari und
er entwickelt haben mochten, BB s waren. Das hatte
mir der Giro d’Italia bewiesen. Ich wusste ja, wie Lance dachte: Man musste so
viel wie möglich tun, denn die anderen Bastarde würden sich noch mehr Mühe
geben. Wenn zwei BB s gut wirkten, warum nicht vier
nehmen? Wenn man künstliches Hämoglobin bekommen konnte, warum darauf
verzichten? Im Peloton hieß es immer, Lance sei allen anderen um zwei Jahre
voraus.
Was immer Lance auch unternahm, ganz sicher holte das Peloton in den
Jahren 2002 und 2003 allmählich auf. Wichtige Informationen kann man letztlich
ja kaum zurückhalten; Innovationen breiten sich immer aus, besonders im
Radsport. Es ist schon seltsam – man hört so viel über die Omertà bei den
Radprofis, und es gibt sie wirklich. Aber gehört man einmal dazu, dann werden
sie regelrecht geschwätzig. Die Fahrer klatschen und tratschen ununterbrochen,
sie flüstern miteinander und tauschen sich aus. Die Belohnungen waren zu groß
und die Strafen zu mild, um nicht auf die Jagd nach dem nächsten Wundermittel
zu gehen. Das Peloton war wie eine Art Facebook auf Rädern – und in dieser Zeit
brodelte es nur vor Informationen. An allen Ecken hörte man von synthetischem
Hämoglobin, eine neue Sorte Edgar, das sogenannte CERA ,
kam aus Spanien, dazu noch ein Mittel namens Aranesp. BB s
verbreiteten sich immer weiter. Ein wildes Gerücht machte die Runde, demzufolge
ein drittklassiger spanischer Fahrer sich, weil er sich keine
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