Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
regulären
Bluttransfusionen leisten konnte, Hundeblut injiziert und dann zwar sein Rennen
gewonnen habe, aber später an den Folgen erkrankt und nie wieder ganz genesen
sei. Später sprach ich mit einem italienischen Fahrer aus einer nahezu unbekannten
Mannschaft, und es stellte sich heraus, dass selbst er Bluttransfusionen
erhielt. So schnell verbreiteten die Methoden sich: In wenigen Jahren war aus
einer Hochtechnologie für Spitzenfahrer ein Hausmittel für die unteren Ränge
geworden.
Hauptsächlich drehte sich der Klatsch aber um Jan Ullrichs Comeback.
Nachdem er wegen seines Ecstasy-Ausrutschers ein ganzes Jahr verloren hatte,
versuchte er sich jetzt als Jan 2.0 voll neu gewonnener Selbstdisziplin zu
rehabilitieren. Er verbrachte gerade einige Zeit in Lucca und trainierte dort
mit meinem Coach Cecco. Das hieß wohl, so meinte nicht nur ich, dass auch
Ullrich mit Ufe zusammenarbeitete – und der bestätigte es bald auch (für einen
Geheimarzt war Ufe beunruhigend gesprächig). Vermutlich würde Ullrich dann wohl
in besserer Form als je zuvor antreten. Obendrein drängte nun eine neue
Generation spanischer und italienischer Radprofis an den Start, Heißsporne wie
Iban Mayo, Ivan Basso und Alejandro Valverde. In der illustren Spitze der Tour
würde es bald schon Gedränge geben.
Im Alter von etwa 13 Jahren hatte ich mich einem Verein
angeschlossen, der sich Crazykids of America nannte und aus Gleichaltrigen
bestand, die am Wildcat Mountain in New Hampshire Ski liefen. Es gab keine
erwachsenen Aufsichtspersonen, keine offiziellen Treffen, keine
Mitgliedsbeiträge. Es ging in diesem Verein eigentlich nur darum, sich
gegenseitig zu immer gewagteren Mutproben herauszufordern: eine Klippe
erklimmen, durch eine lange Abwasserröhre robben oder eine Eispiste auf einem
Kantinentablett hinunterrasen, und zwar nachts. Die Crazykids wollten ihre
Grenzen austesten und probieren, wie
weit man gehen konnte.
Kein Crazykid ging weiter als ich. Ich war weder das größte noch das
stärkste oder schnellste Kind im Club, aber ich ging immer bis an meine
Grenzen. Es hat mich schon immer gereizt; ich brauche das Adrenalin. Vielleicht
liegt es an der Depression, vielleicht ist es ein Bedürfnis nach starken
Reizen, jedenfalls – wenn ich an die Grenze gehen kann, dann gehe ich.
In gewisser Hinsicht war 2003 das Crazykids-Jahr meiner
Radsportlaufbahn. Ich ging an meine Grenzen. Es war das bei Weitem
erfolgreichste Jahr meiner Karriere. Ich bekam alles, was ich mir je gewünscht
hatte – Rennsiege, Ruhm, große Momente – und ging fast daran zugrunde.
Schon beim ersten großen Rennen der Saison, Paris–Nizza im März,
wurde meine neue Haltung deutlich. Früher war ich bei Paris–Nizza, einer
einwöchigen Tour, die man auch »Rennen zur Sonne« nennt, immer mit inneren
Zweifeln angetreten: War ich schon gut genug oder noch nicht? Diesmal wusste
ich, dass ich gut war – dank Cecco, Ufe und Riis. Ich punktete: Im Prolog wurde
ich Zweiter. Und auf der sechsten Etappe legte ich einen formvollendeten
Muskelmann-Stunt hin, eine Solo-Flucht über 101 Kilometer. Die Tour du Pays
basque schloss ich mit dem zweiten Platz in der Gesamtwertung ab, das Critérium
International als Sechster. Und wo immer ich startete, fuhr ich in der
Spitzengruppe, bei den Einser-Kandidaten.
Das größte und vielleicht härteste Rennen des Frühlings war
Lüttich–Bastogne–Lüttich: 257 Kilometer durch Belgien, bekannt als Königin der
Klassiker. Es ist eines meiner Lieblingsrennen, seit 1997 war ich jedes Jahr
dort gestartet. Dieses Mal würde mir jedoch erstmals ein BB zu Hilfe eilen. Bjarne und ich teilten die Strecke in Abschnitte ein und
entschieden, welcher Teamkamerad sich auf welche Bergstrecken konzentrieren
sollten. Anstatt das ganze Rennen voll zu fahren, würden sie so ihre Kraft nur
an bestimmten Punkten einsetzen, um mich nach vorn zu bringen; dann könnten sie
sich zurückfallen lassen.
Nicht nur ich spekulierte auf einen Sieg. Lance hatte seit 1996
keinen Klassiker mehr gewonnen und in den Medien herbe Kritik für seine
ausschließliche Konzentration auf die Tour de France eingesteckt. Es war ein typischer
belgischer Tag – regnerisch, nasskalt, düster. Lance war das ganze Rennen
über in Topform, der Rest des Postal-Teams allerdings nicht. Etwa 30 Kilometer
vor dem Ziel lancierte er einen Vorstoß, wodurch er sich in eine
aussichtsreiche Position für den Sieg manövrierte – wenn er es denn
schaffen würde, den
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