Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
und wollte die neuesten Computeranimationen nutzen, um den
Zuschauern Einblicke in mein Gehirn zu geben, während ich die Tour fuhr.
Vorläufig war mein Gehirn aber noch mit Entscheidungen ausgelastet,
von denen ich den Filmleuten lieber nichts erzählte. Den ganzen Frühling
hindurch pendelte ich ständig nach Madrid zu Ufe und nach Lucca zu Cecco, um
mich auf die Tour 2003 vorzubereiten. Wir einigten uns darauf, drei BB s vorzubereiten – einen vor der Tour und zwei während
des Rennens, gemäß Riis’ Programm von 1996. Ich legte eine Rennpause ein und
trainierte nur noch. Ich befolgte Ceccos Rat, der immer wieder predigte, dass
alle Therapien der Welt mir nicht helfen könnten, wenn ich nicht erstens sehr,
sehr fit und zweitens sehr, sehr dünn sei.
Gewichtsabnahme ist ein Teil der Vorbereitung auf die Tour, der
leicht unterschätzt wird. Hört sich ganz einfach an: Nimm halt ab. Iss nicht so
viel. In Wirklichkeit aber führt man Krieg gegen den eigenen Körper, weil man
ja die ganze Zeit wie besessen trainiert und jede Zelle nach Nährstoffen
schreit. Ich dachte mehr über das Abnehmen nach als über mein Doping, bei jeder
Mahlzeit, bei jedem Bissen.
Bjarne empfahl seine Spezialmethode: Wenn man von einer
Trainingsfahrt zurückkommt, sofort eine große Flasche Mineralwasser mit
Kohlensäure hinunterkippen, dann zwei oder drei Schlaftabletten. Wenn man
wieder aufwacht, ist es schon Zeit fürs Abendessen oder mit Glück sogar fürs
Frühstück. Ich versuchte alles. Literweise Cola light, viel Rohkost – eine
Ernährung aus Äpfeln und Sellerie. Jeder Krümel, den ich zu mir nahm, musste
wieder abtrainiert werden. (Bjarne erinnerte mich sogar daran, dass ich das
Zusatzgewicht durch die BB s während des Rennens
berücksichtigen musste.)
Mein Verhalten wurde immer seltsamer. Bei gemeinsamen Essen mit
Freunden stopfte ich mir manchmal den Mund voll und täuschte dann einen Nieser
vor, sodass ich das Essen in eine Serviette spucken, auf die Toilette gehen und
es dort entsorgen konnte. Wenn Tugboat dabei war, fütterte ich ihn heimlich,
damit mein Teller leer aussah. Es wurde peinlich: Ich kam mir vor wie ein
verschlagener Drittklässler oder ein magersüchtiger Teenager. Etwa zur Halbzeit
meiner Laufbahn stand ich am Rand einer Essstörung (die bei Spitzenfahrern gar
nicht so selten ist). Aber Abnehmen hilft einfach. Hätte ich die Wahl zwischen
drei Pfund weniger oder drei Hämatokritpunkten mehr, würde ich auf jeden Fall
lieber drei Pfund abnehmen.
Während meiner Hungerkuren war ich unausstehlich. Haven hatte
wirklich die Nase voll. Wir waren ein junges Paar in einer wunderbaren Wohnung
in einer der schönsten Gegenden der Welt, aber wir konnten kaum etwas gemeinsam
unternehmen, weil alles auf mein Training ausgerichtet war. Ferienreise? Geht
nicht. Ausgehen in ein Sterne-Restaurant? Schön wär’s. Ein Wochenende in Paris?
Nach der Saison vielleicht. Und egal, wie man es betrachtet – Mineralwasser und
Sellerie sind einfach kein romantisches Dinner.
Sogar die einfachsten Vergnügungen wurden schwierig. In Girona kommt
man am besten zu Fuß vorwärts, und Haven mochte die täglichen Einkaufsgänge zum
Bäcker, auf den Markt, zum Kaffeeladen. Sie wollte gerne, dass ich mitkam, aber
ich war einfach zu langsam. Das klingt natürlich verrückt – ich war zu dieser
Zeit wahrscheinlich einer der fittesten Männer weltweit –, aber ich hatte den
Gang eines Greises: langsame, kleine Schritte. Haven war es lästig, und
manchmal stritten wir uns sogar deswegen. Sie fragte, ob ich nicht ein bisschen
schneller gehen könne, und ich entgegnete: »Warum machst du nicht ein bisschen
langsamer?«
Mit Bjarne kam ich auch nicht so gut aus. Er wollte das CSC -Team mit zwei Fahrern an der Spitze auf die Tour
schicken – Carlos Sastre und mir. Ich fand es dagegen besser, alle unsere
Ressourcen auf einen Fahrer zu konzentrieren – auf mich. Wir diskutierten immer
wieder darüber; ich verwies auf das Postal-Team als Vorbild für den Sieg;
Bjarne blieb dabei, dass ein Team besser dastehe, wenn es mehrere Trümpfe
ausspielen könne. Dieser Streit ging die ganze Tour über weiter und ließ sich
nicht lösen. Mein Vertrag würde im kommenden Jahr ohnehin auslaufen; im
Hinterkopf hegte ich Zweifel über meine Zukunft mit Bjarne und CSC .
Wenn ich nicht auf dem Rad saß, hatte das Leben also seine
Schwierigkeiten. Auf dem Rad dagegen lief alles wunderbar. Mit nahender Tour
wurde meine Wattzahl immer höher und mein Gewicht
Weitere Kostenlose Bücher