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Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)

Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)

Titel: Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tyler Hamilton
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Vorsprung zu halten, oder wenn ein paar Postal-Fahrer ihm
so lange das Feld vom Leibe hielten. Aber Lance mochte so stark sein, wie er
wollte – wir waren stärker. Wir holten ihn zurück, wobei meine CSC -Jungs, insbesondere Nikki Sørensen, die Hauptarbeit
erledigten. Drei Kilometer vor dem Ziel waren wir acht Anwärter auf den Sieg,
darunter Lance und ich. Es war wieder wie damals auf den Straßen von Nizza:
Lance und ich sahen einander an, unsere Räder einen Zentimeter auseinander, und
testeten aus, wer der Stärkere war.
    Einen langen Augenblick zögerten sie alle. Da griff ich an. Ich fuhr
wie der Teufel, drückte all meine Kraft in die Pedale. Die anderen ließen mich
ziehen. Sie dachten, es sei noch zu früh. Wir alle kannten doch diese
grauenhaft rutschige, allmählich immer steiler werdende Straße, eine dieser
Zielpassagen, die kein Ende nehmen wollen. Sie dachten, dort könnte ich meine
Führung auf keinen Fall behaupten.
    Konnte ich aber. Mein Adrenalinspiegel erreichte einmalige Höhen.
Ich erlebte Todesängste, als wäre ein Rudel wilder Wölfe hinter mir her.
Milchsäure kroch in die Fingerspitzen, die Lippen und bis unter die Augenlider.
Der Regen machte mich blind; ich duckte mich und kachelte, kurbelte weiter und
weiter. Endlich, als ich mich schon der weißen Linie näherte, wagte ich den
Blick zurück und wurde mit der schönsten Aussicht belohnt, die ich je gesehen
hatte: einer leeren Straße. Ich überquerte die Linie und war der erste
Amerikaner, der je Lüttich–Bastogne–Lüttich gewonnen hatte. In den Medien hieß
es ohnehin schon überall, ich hätte Chancen auf den Tour-Sieg. Der Giro
d’Italia hatte mich in die Schlagzeilen gebracht; LBL schoss mich in die Stratosphäre. Eine Woche später gewann ich dann auch noch
die sechstägige Tour de Romandie und wurde damit zum Punktbesten der UCI -Wertung in diesem Jahr, also Nummer eins auf der
Radprofi-Weltrangliste. Und tief, sehr tief in mir drin dachte ich die ganze
Zeit: Wenn das nur gutgeht.
    Haben Sie in den Jahren meiner aktiven Zeit je einem Radprofi
unmittelbar nach einem großen Sieg ins Gesicht gesehen? Wenn Sie genauer
hingesehen haben, dann haben Sie unter dem Siegerlächeln vielleicht noch etwas
anderes bemerkt – Sorgen und ungute Vorahnungen. Der Fahrer musste sich Sorgen
machen, weil er wusste, dass ein Sieg Probleme schafft, zum Beispiel eine
hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, auf Dopingmittel getestet zu werden. Wie
sicher man sich auch gewesen war, genug Zeit fürs Nachglühen eingeplant zu
haben – da blieb immer dieser nagende Zweifel, dass man falsch abgemessen oder
die Ader verfehlt hatte oder von einem brandneuen Testverfahren noch nichts
wusste. Auf dem Siegertreppchen konnte man sich dann nichts mehr vormachen: Man
sah nur zu genau, wie die ganze eigene Karriere von irgendeinem spanischen Arzt
abhing, dessen Reputation gegen null ging und der vielleicht nicht einmal
wusste, wovon er sprach. Während man nach außen lächelte, wand man sich
innerlich bei diesem Gedanken.
    Ich hatte noch mehr Gründe, beunruhigt zu sein. Lance, das war klar,
würde sauer sein. Ich versuchte die Sache in meinen Interviews ein bisschen zu
beschönigen (»An diesem Sieg hat auch Lance seinen Anteil«, sagte ich), aber es
nutzte nichts. Er stolzierte hinaus, ohne mich oder sonst jemanden eines Wortes
zu würdigen. Später hörte ich, er habe seinen Radhelm quer durch den Bus
gefeuert. Im Haus war es ziemlich ruhig, als ich zurückkam.
    Nach meinem Sieg bei Lüttich–Bastogne–Lüttich ergoss sich
ein Strom neuer Möglichkeiten in unser kleines apartamento: Sponsoren,
Stiftungen, die Medien und so weiter. Haven und ich erhielten im Frühling die
Anfrage einer Filmfirma, die bei der kommenden Tour de France eine IMAX -Dokumentation über mich drehen wollte. Die
Produktion hatte sich zuerst – natürlich – an Lance gewandt, aber er musste
ablehnen, weil er bereits in einem Filmprojekt engagiert war, bei dem entweder
Mark Wahlberg oder Jake Gyllenhaal mitspielen würde, je nachdem, wen man
fragte. Ich war also wieder einmal die zweite Wahl. So ist das wohl auf dem
freien Markt: Wenn Batman ausgebucht ist, nimmt man auch mit Robin vorlieb.
    Der Film sollte Brain Power heißen. Der
Grundgedanke war, meine Erfahrungen bei der Tour de France 2003 als
Illustration dafür zu nehmen, was sich im menschlichen Geist abspielt, wenn der
Körper bis an seine Grenzen getrieben wird. Die Produktion hatte ein Budget von
6,8   Millionen Dollar

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