Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
Vom Netzwerk:
Gesamtheit eine mechanische Vorrichtung? Jeder, der Augen hatte, konnte die Erdumlaufschiene erkennen, die Zahnräder auf der Äquatorialmauer, die mechanischen Bewegungen von Mond und Sternen, selbst die Lampe, die die Sonne darstellte. Warum sollten dann nicht die Menschen und das vergessene Volk, die Tiere, Käfer, Bäume, das Feuer und der Wind ebenso Maschinen sein?
    Hethor konnte sich nicht entscheiden, ob es sich dabei um eine aufregende Philosophie oder um sentimentale Torheit handelte. Stattdessen schloss er die Augen und lauschte, lauschte wirklich der Musik der Welt, die unter allen anderen Geräuschen auf Erden lag. Der wummernde Rhythmus, der die Riten des vergessenen Volkes begleitete, sorgte nur dafür, dass die darunterliegende Musik klarer wurde. Es schien, als ob sie im Kontrast zur Welt, die sich Gehör zu verschaffen versuchte, eine komplizierte und tiefgründigere Struktur ermöglichte, als jede Stille es vermocht hätte.
    Die Käfer summten wie kleine, von Federn angetriebene Spielzeuge. Das Knistern des Feuers klang wie das Klirren und Rasseln einer Schachtel voll zerlegter, klimpernder Messingteile. Das vergessene Volk bewegte sich und sprach und sang mit einer Präzision, die jede Uhr und jeden Chronometer in den Schatten stellte. Selbst die Gerüche schienen aus kleinen Mechanismen zu bestehen, deren Bestandteile wiederum aus noch winzigeren Bestandteilen zusammengesetzt waren, als trüge die Schöpfung selbst eine Vielzahl ineinander verschachtelter Schöpfungen in sich.
    Genauso wie jeder Mensch eine eigenständige Schöpfung war, eine einzigartige Seele in Gottes Welt.
    Langsam lernte Hethor die Worte zu verstehen.
    »Nein ...«
    »Ja ...«
    »Drei orangefarbene und ...«
    »Füße ...«
    »Er hat sie früher geliebt ...«
    »Ich bin ganz ...!«
    »Sei vorsichtig ...«
    »Freude ...«
    »Wir gingen sieben Tage lang, bevor wir Wasser fanden ...«
    »Er ist einer der Blassen Menschen, aber Gott hat dennoch gesehen ...«
    »Goldene Tafel und die Worte darauf ...«
    Sie redeten über ihn. Hethor hörte das vergessene Volk sprechen und fügte dessen Worte aus den Klicks und dem Surren der kleinen Getriebe Gottes in ihrer Sprache zusammen.
    »Arellya sagt ...«
    Arellya sagt was? Die Erinnerung an ihre Berührung, ihren Blick, wühlten plötzlich Emotionen in Hethor auf.
    »Kalker weiß es besser. Aber er sagt es nicht.«
    »Schau dir den an! Grün wie ein Krokodil, und ich wette darauf ...«
    »Das bringt nichts. Es bringt nie etwas, wenn Gott ...«
    »Heiß! Heiß! Heiß!«
    Arellya berührte seinen Arm, und als Hethor die Augen öffnete, spürte er ihre Blicke auf sich ruhen. Er hatte bereits gewusst, dass sie bei ihm war. Sie hielt ihm etwas hin, das in einem Bananenblatt gebacken worden war. Hethor nahm es, und sie lächelte ihn an. Mitten im geschäftigen Brummen der Käfer und dem Bratenduft des knisternden Feuers begrüßte er sie in der Sprache des vergessenen Volk es.
    »Hallo, Arellya. Vielen Dank.«
    Sie war kein bisschen überrascht. »Warum hast du so lange gebraucht, unsere Worte zu verstehen?«
***
    Am nächsten Morgen ging eine rot gefleckte Sonne auf. Der beißende Gestank von Asche lag in der Luft, und auf der Lichtung schnarchten viele Angehörige des vergessenen Volkes leise vor sich hin. Hethor erwachte wenige Schritte vor seiner Hütte, alle viere von sich gestreckt. Sein Körper tat ihm weh, wo er auf Steinen und Wurzeln gelegen hatte, und juckte an den Stellen, wo nachtaktive Insekten sich seiner angenommen hatten.
    Aber das alles war Hethor egal. In diesem Moment war er so glücklich wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Arellya schlief in seiner Nähe und hatte sich wie eine Katze zusammengerollt. Die Frau aus dem vergessenen Volk war kein Mensch, den er umwerben oder gar lieben konnte, aber es hatte sich eine Art Zuneigung zwischen ihnen entwickelt, wie er sie nie zuvor gekannt hatte und die umso merkwürdiger erschien, weil sie sich ohne gegenseitiges Verstehen entwickelt hatte. Sie hatten stundenlang über die verschiedensten Dinge gesprochen: über die Schönheit der Käfer, die Farben des Dschungels, die Höhe der Mauer, wie gut dieser tanzte oder jener trommelte. Es eines jener unverfänglichen, gleichwohl anregenden Gespräche gewesen, die Hethor während seiner Jugend in New Haven versagt geblieben waren, weil er nie ein Wort hatte herausbringen können.
    Letzte Nacht war es ihm gelungen, der Welt auf eine Art und Weise zuzuhören, die es ihm wieder möglich

Weitere Kostenlose Bücher