Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Flöße gebaut und Ruder und Steuerruder geschnitzt. Viele werden dich begleiten.«
»Ich werde sie nicht mitnehmen«, sagte Hethor.
Kalker runzelte die Stirn. »Du kannst es ihnen nicht verwehren.«
»Wer spricht für das vergessene Volk?«, fragte Hethor.
»Ich«, antwortete Kalker. »Jedenfalls in den Zeiten, wenn es nicht ausreicht, dass jeder Angehörige des vergessenen Volkes für sich selbst spricht.«
»Du bist Stammesführer?«, fragte Hethor, auch wenn es keine große Überraschung für ihn gewesen wäre.
»Nein, aber ich spreche für sie.«
»Das vergessene Volk hat keinen Stammesführer«, sagte Arellya. »Jeder gehört sich selbst.«
»Nun denn, Sprecher«, sagte Hethor zu Kalker. »Sag deinen jungen Männern, dass sie mutig sind und voller Leidenschaft, und dass mein Respekt für ihren Einsatz keine Grenzen kennt. Aber dies ist meine Reise, und ich muss sie allein unternehmen. Bisher waren alle meine Begleiter vom Pech verfolgt, und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird.«
Arellya berührte sanft seinen Arm, aber diesmal war ihr Griff zupackender, besitzergreifender. »Du kannst sie nicht aufhalten. Wenn du den Wasserweg beschreitest, werden sie dir folgen. Wenn du durch den Dschungel stolperst, folgen sie dir ebenfalls. Es liegt nicht an dir, Bote. Das Wort Gottes erscheint vielleicht einmal in einem Dutzend Generationen, oder vielleicht sogar erst nach einem Dutzend mal Dutzend Generationen. Lass sie dem Wort folgen. Wenn das Wort sie an die Grenzen ihres Daseins führt, ist es immer noch ihre Entscheidung.«
»Also soll es eine Flussreise sein?«, fragte Hethor. »Und das vergessene Volk schwimmt mit der Strömung?«
»Wer mitkommen will, soll mitkommen.« Kalker griff nach Hethors Knie und berührte es. »Aber es ist dein Wille, der die Entscheidung trifft.«
***
Tage vergingen, und das vergessene Volk versammelte eine kleine Flotte aus Kanus und Flößen. Sie befestigten jedes Schiff an den knorrigen Knien der Bäume, die wie amphibische Wächter aus dem Wasser wuchsen. Rankenpflanzen hingen von ihnen herab, und Affen mit grünstichigem Fell trieben sich in der Nähe herum, um dem vergessenen Volk dabei zuzusehen, wie es seine Flottille zu Wasser ließ. Manche Baumstämme im Wasser bewegten sich gegen den Strom – Krokodile. Von Zeit zu Zeit öffnete sich ein goldbraunes Auge, aber dem behelfsmäßigen Hafen näherten sich die Bestien nicht.
Hethor stand auf einem Lehmhügel und beobachtete das Geschehen. Dabei stellte er fest, dass der Fluss ganz anders roch als das nahe Dorf. Er roch mehr nach Schlamm und weniger nach Wachstum, und ein ungesunder Gestank mischte sich in den Geruch, als ob riesige Monster in seinem nasskalten Bett verfaulten. Außerdem zeigte der Strom auch nach mehreren Wochen noch die trübbraune Farbe einer Überschwemmung.
Hethor bemerkte, dass sein Gefühl für den Lauf der Zeit so gut war wie eh und je, zumindest, was kurze Augenblicke anging. Aber seine Fähigkeit, längere Zeiträume nachzuhalten – Stunden oder gar Tage –, war ihm auf der Äquatorialmauer irgendwie verloren gegangen und noch nicht wiedergekehrt. Hethor zuckte mit den Achseln. Das Leben ist ein Rätsel, dachte er, und mein Leben ist nicht größer oder kleiner als alle anderen.
Die Welt würde ihrem Schicksal folgen, bis er Gabriels Geheimnis entschlüsseln konnte – oder auch nicht. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Hethor, der Erzengel hätte sich direkt an die Königin und ihre Armeen gewandt. Allerdings hätten alle Armeen Victorias nicht ausgereicht, um die Mauer zu überqueren.
Doch Hethor hatte noch mehr verloren als nur die Fähigkeit, sich an die vergangenen Tage zu erinnern: Sein Glücksgefühl, das er am Morgen nach der rituellen Feier empfunden hatte, war verflogen. Der Schlüssel der Ewigen Bedrohung beherrschte nun wieder seine Gedanken, und die Narbe auf seiner Hand juckte.
»Ich bin bereit«, sagte er unvermittelt zu Arellya. »Sag den jungen Männern, sie sollen ihre Speere und Vorräte mitnehmen und mich auf dem Wasserweg begleiten.«
Da sie ihm nur bis zur Brust reichte, stellte Arellya sich auf die Zehenspitzen, legte die Arme um seinen Hals, zog sich zu ihm hoch und küsste ihn auf die Lippen. Die Nähe ihres Gesichts ließ seinen Schnurrbart kribbeln, und der Druck ihrer Lippen auf seinen war ein völlig neues Gefühl für ihn.
Als Arellya sich von ihm löste, hielt der Geschmack von duftendem Mariengras und Lehm sich noch eine Weile in seinem Mund.
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