Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Gottes an den Ort, wo die Welt verwundet ist. Dort musst du die Blutung dieser Wunde stillen.‹ Als der Student dem Meister von den Worten des Engels berichtete, waren die Söhne des Meisters neidisch, schimpften ihn einen Lügner und Dieb und verstießen ihn. Der Student wurde zum Boten und machte sich auf den Weg, um die Blutung zu stillen, die die Welt dazu bringt, sich in Schmerzen zu wälzen.«
Eine Zeit lang herrschte Stille. Nur das Knistern des Feuers war zu hören. Dann ergriff einer der jungen Männer das Wort.
»Eine Frage, Bote. Warum sollte jemand den Tag und den Augenblick von einem metallenen Ding erfragen wollen, wo der Himmel doch jedem diese Antwort gibt, wenn er einfach nur nach oben blickt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Hethor mit einem Lächeln. »Früher glaubte ich es zu wissen, aber das vergessene Volk hat mich gelehrt, dass ich im Irrtum war.«
Diese Antwort gefiel ihnen, und ein Raunen lief durch die Reihen der behaarten Menschen.
Dann stellte ein anderer eine Frage: »Warum hat der Student sich dem Meister unterworfen? Niemand muss etwas anderes sein als er selbst.«
»Das ist eine weitere Frage, die ich nicht mehr beantworten kann«, erwiderte Hethor, »aber ich kann euch sagen, dass ihr weiser seid als mein alter Meister und all meine Lehrer zusammen.«
Darauf lachten sie und legten sich einer nach dem anderen schlafen. Auf dem Weg zu den Schlafstätten spuckten sie ins Feuer, um ihren Teil der Flammen zu löschen. Hethor blieb sitzen, bis das Feuer zur Glut heruntergebrannt war, lauschte dem Schwirren der Fledermäuse und dachte über seine eigene Geschichte nach.
***
Am nächsten Morgen setzte die Flottille ihren Weg den Fluss hinunter fort. Die noch blutige und feuchte Schlangenhaut war zwischen zwei Flößen aufgehangen und das Krokodilfleisch unter denen aufgeteilt worden, die das Tier getötet hatten. Libellen, deren Flügel größer waren als Hethors Hand, surrten über das Wasser. Die Bäume standen nun dichter beieinander und wirkten düsterer.
Der Dschungel und der Wald veränderten sich.
Hethor saß zwischen frisch geschnittenen Blättern, die goldene Tafel auf den Knien, doch anders als sonst waren es die zunehmend dunkleren Schatten des Dschungels, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er schließlich Arellya und deutete mit der Hand auf das sich verändernde Blattwerk.
»Kalker hat mich gewarnt, dass unser Wasserweg irgendwann den Großen Salzfluss erreicht. In diesem Wasser zu schwimmen oder es gar zu trinken würde das Leben des vergessenen Volkes gefährden. Vielleicht sind das die ersten Auswirkungen des Salzes.«
»Das ist das Meer«, sagte Hethor. »Ich bin in einem Boot der Lüfte darüber hinweggeflogen wie ein hölzerner Vogel mit geflochtenen Flügeln. Man kann ohne Gefahr im Meer schwimmen, zumindest, wenn die Sonne scheint und die Winde schweigen. Aber Kalker hat recht – man darf dieses Wasser niemals trinken.«
Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Tafel. Heute war sie irgendwie anders. Das Wort, das er für das Tetragramm hielt, wirkte vertrauter und vermittelte ihm ein Gefühl der Heiligkeit. Hethor wusste keine Laute dafür, also sagte er einfach auf Englisch: »Gott.« Dann noch zweimal: »Gott ... Gott.«
Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Worte. Sie spürten das schwache, ratternde Surren der Getriebe innerhalb von Getrieben innerhalb von Getrieben – dasselbe Gefühl, das er in der Nacht des Feuer-Ritus verspürt hatte, als er die Sprache des vergessenen Volkes zu verstehen begann.
Das war das Wort Gottes. Gottes Worte sprachen zu ihm.
Was hatte Gott zu sagen? Diese Nachricht musste für die Welt von Bedeutung sein – denn dies war immerhin die Aufgabe, die Gabriel ihm erteilt hatte.
»Welt« sprang Hethor nun ins Auge, ein Echo der zwitschernden Vögel des Dschungels und der kalten Luft an der Spitze der Mauer, die sich unter seinen Fingerspitzen auf dem Metall miteinander verbanden. Gott ... Welt, dann Gott, dann Gott ... dann wieder Welt.
Hethor war jetzt fast soweit, an Kalkers Vorstellung von einer Seelenmagie zu glauben. Er schloss die Augen, die Tafel noch in den Händen, und betete. Er suchte nicht nach dem arroganten Gott eines Pryce Bodean, sondern nach einem Gott, dessen Widerhall er während des Feuer-Ritus des vergessenen Volkes gehört hatte.
Du bist da, betete er, im Ticken einer jeden Uhr, in jeder Feder, die aufgezogen wird, um die Antriebsenergie für
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