Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Schichten des Lebens verborgen. Diese seltsame Gabe hatte er immer schon besessen; für ihn war sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenn auch eine ungewöhnliche. Manche hielten sie für die Zauberkraft eines Hexenmeisters der Südlichen Hemisphäre, wann immer er versucht hatte, sie anderen zu erklären, was aber nur selten der Fall gewesen war.
Er verstand ihre Dunkelheit auf eine sehr einfache, primitive Art. »Was ist denn mit euch?«
»Wir warten hier«, sagte ihr Sprecher.
Hethor überdachte die Antwort. Er atmete tief ein, roch Wachs und schwitzende Steine, ungewaschene Kerzenmänner und Unrat in der Ferne. Er horchte auf seinen Atem und auf ihren, auf das Zischen Hunderter Kerzenflammen und die unerklärlich lauten Geräusche der Erde. Er schaute sich in der flimmernden Dunkelheit um.
Schmerz legte sich wie eine fest zupackende Hand um seinen Hals. Er erinnerte sich an das Gefühl, in einem Fluss zu ertrinken. Das wäre ihm beinahe tatsächlich passiert – in dem Sommer, als er neun Jahre alt gewesen war. Er hatte sich in den verfaulenden Ästen eines vorbeischwimmenden alten Baumstamms verheddert und hätte für einen einzigen weiteren Atemzug seine Seele verkauft.
»Bitte ...« Hethor würgte dieses Wort hervor und versuchte dem Verlangen zu widerstehen, laut zu schreien und aus diesem Gefängnis zu fliehen, selbst wenn es bedeutet hätte, sich mit bloßen Fingern durch den Stein graben zu müssen. Sicherlich kannten alle an diesem Ort dieses Gefühl. Diese Männer waren begraben, tot wie der Messing-Christus, und es gab keinen Engel, der den Stein zur Seite rollte.
Jemand drückte Hethor eine Schüssel in die Hand. Sie fühlte sich kühl an und war von primitiver Machart. Selbst im Kerzenlicht vermochte Hethor sie kaum zu sehen, konnte mit der Hand aber gekochte Eier ertasten. Er nahm sich eins und reichte die Schüssel weiter.
Bald schon hörte er, wie die anderen zum Frühstück Eier pellten und sie schmatzend verschlangen. Es wurde immer noch nicht gesprochen.
Eine weitere Schüssel wurde herumgereicht, ähnlich der ersten, doch war diese mit einer matschigen Brühe gefüllt, von der sich Hethor zwei Fingervoll in den Mund schaufelte. Seine Nase verriet ihm, dass es sich um Haferflocken mit einem Schuss Honig handeln musste. Er reichte die Schüssel weiter und leckte sich die Finger ab.
Als ihm die dritte Schüssel gereicht wurde, erkannte er endlich, woraus die Gefäße bestanden. Es waren die oberen Hälften von Schädeln, rund wie sein eigener Kopf und ungefähr genauso groß.
Hethor kreischte laut und ließ die Schädelhälfte beinahe fallen.
Der Kerzenmann zu seiner Rechten, der bisher kein Wort gesprochen hatte, sagte mit sanfter Stimme: »Wenn du keine Würstchen magst, reich sie einfach weiter.«
»Die Schüssel ...«
»Hier in der Grube teilen wir alles«, sagte der Sprecher. »Sogar uns selbst, wenn wir nicht mehr sind.«
»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte Hethor verzweifelt.
»1871 hat Vizekönig Earl Cornwallis Ingenieure der Londoner Untergrundbahn nach Boston geschickt, um auch hier eine U-Bahn zu bauen. Er ließ eine Strecke vom Hafen zum vizeköniglichen Amtssitz im Unterhaus von Massachusetts errichten. Von hier verlief die Strecke weiter zum westlichen Ende des Boston Common.«
Das war nicht die Antwort, die Hethor erwartet hatte. »Was?«
»Die Grube der Kerzenmänner ist die Haltestelle unter dem Unterhaus von Massachusetts.«
»Wir haben sogar eine Lokomotive hier«, krächzte eine weitere Stimme aus den flackernden Schatten. Die Schwäche des Alters ließ sie näselnd, aber dennoch stolz klingen.
Eine unterirdische Eisenbahn? In einem Gefängnis? Die waren alle wahnsinnig! Was hatte William of Ghent ihm angetan? »Und ihr seid die Ingenieure?«
»Ein paar der Ältesten von uns«, antwortete der Sprecher. »Manche waren Arbeiter oder Zeichner. Andere wurden hierher gebracht, um auf irgendetwas zu warten.«
»So wie in meinem ...«
»Halte dich an die Regel!«, unterbrach ihn der Sprecher abrupt. »Unsere Geschichten sind alt und dürfen weitergegeben werden. Deine Geschichte aber ist neu. Man kann sie nicht mit Gold aufwiegen!«
»Was ist mit der Eisenbahnlinie geschehen?« Hethor versuchte, inmitten dieser halb blinden alten Männer nicht an seinem Verstand zu zweifeln.
»Die Linie wurde nie eröffnet«, sagte der Sprecher traurig. »Vizekönig Earl Cornwallis verlor bei der Testfahrt ein Kind unter den Rädern unserer Lok, bevor die Strecke
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