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Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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die immer noch brannten. Offenbar hatten die Wachskerzen ein Jahrhundert lang ohne Unterlass gebrannt. Hethor fragte sich, wie viel Zeit der alte, gebeugte Mann hier schon verbracht hatte.
    Und wie lange hatte der frühere Bewohner dieser Bettstatt hier gelebt?
    Hethor legte sich hin, den Kopf an erstarrte Flüsse aus Wachs gelehnt, und lauschte seinem Atem, seinem Herzschlag und seinen ungeweinten Tränen. Er hörte das zischende Knistern der Kerzen, die unregelmäßige Atmung der Kerzenmänner und das zarte Schwitzen der Ziegel und Mauersteine unter dem Wachs.
    Unter all diesen Geräuschen drehte sich die Welt, und ihr Rattern wurde lauter. Hethor musste sich nicht einmal Mühe geben, das Geräusch zu hören. Doch irgendetwas stimmte nicht. Eine Hemmung oder eine Schnecke lief mit den Rädern der Welt nicht mehr im Takt. Gottes Schöpfung war wie eine erkrankte Uhr, die zwar noch nicht aufgegeben hatte, aber unaufhaltsam ihrem Ende entgegenlief.
    Verschollen unter den Kerzenmännern wusste Hethor mit schmerzhafter Gewissheit, dass die Welt nicht mehr rund lief. Und nur er konnte sie reparieren.
    Aber nicht jetzt. Nicht hier.
    Die kleinen Lichter flackerten und durchsetzten die Dunkelheit mit hellen Punkten, als die Erschöpfung Hethor übermannte und ihn in Schlaf versinken ließ. In den unsteten Lichtern seiner Träume verfolgte ihn die Stimme des William of Ghent.

3.
    »Was zum Frühstück, Junge?«
    Hethor schreckte aus dem Schlaf. Sein Körper zuckte vor dem Gefühl kalten Steins zurück. In der Dunkelheit, die ihn umgab, flackerten kleine Flammen. Jeder einzelne Lichtpunkt war eine Erinnerung, die nun zurückkehrte. Hethor hatte von seinem Federkissen und seiner Bettstatt auf Meister Bodeans Dachboden geträumt. Vor nur einer Woche gehörten zu seinen größten Sorgen das Bestreben, Rektor Brownlee möglichst aus dem Weg zu gehen und seine Fähigkeit zu perfektionieren, selbst in die kleinsten Zahnradrohlinge die korrekte Getriebeübersetzung feilen zu können.
    »Es tut mir leid«, sagte Hethor flüsternd zu dem Kerzenmann, der auf Händen und Knien neben ihm kauerte. »Ich habe keinen Hunger.«
    »Im Herzen des Gesteins verspürt niemand Hunger«, lautete der nüchterne Kommentar des Kerzenmannes. »Niemand, und niemals. Doch ein Mann muss essen, wenn er leben will.«
    Hethor musste sich eingestehen, dass der Kerzenmann nicht ganz unrecht hatte. Er hockte sich hin. Sein Rücken und die Gelenke schmerzten nach der langen Zeit, die sie auf kaltem Stein und bröckligem Wachs verbracht hatten. Dann kroch er dem Mann hinterher, der ihn geweckt hatte.
    Einige Gefangene hatten sich zu einem Kreis zusammengesetzt, von einem wehrhaften Wall aus Kerzenwachs umgeben. Die Oberkante der klumpigen, langsam fließenden Mauer wurde von weiteren Kerzen erhellt. Hethor hatte kein Gefühl für die Größe des Raumes, aber er schien riesig zu sein. Das flackernde Kerzenlicht ließ die Dunkelheit noch undurchdringlicher werden.
    Er hätte mehr Sehkraft dem Licht vorgezogen.
    Sein Führer brachte ihn in den Kreis, klopfte mit der Hand auf einen kleinen Sitz aus Wachs, den das jahrelange Sitzen eines Anderen geformt hatte, und kroch dann auf seinen eigenen Platz.
    »Willkommen«, sagte ein anderer Kerzenmann. Es schien sich um ihren Sprecher zu handeln. Es hätte derselbe sein können, der Hethor gestern Nacht begrüßt hatte.
    Falls es überhaupt letzte Nacht gewesen war, machte Hethor sich mit einem Schaudern klar. Sein Zeitgefühl bestätigte ihm, dass es früh am Morgen war. Hier war das Rattern der Erde beinahe schon laut, ein Metronom, das sich über die Verwirrung in der Dunkelheit hinwegsetzte. Doch es gab keine Möglichkeit, die siderische Mitternacht zu bestimmen und schon gar nicht, diese Erkenntnis zu überprüfen.
    Hethor hatte keine Hauptuhr außer der, die er in sich trug.
    »Danke«, sagte er ein wenig spät, da es ihm schwer fiel, sich von seinem Gedankengang zu lösen. »Ich bin ...«
    »Nein«, sagte der Kerzenmann bestimmt und hob die Hand. »Wir haben hier in der Grube nur eine Regel. Sei langsam. Die geringste deiner Neuigkeiten ist ein Schatz, den es zu bergen und von Mann zu Mann weiterzugeben gilt. Verschwende nichts leichthin, was dir später kostbar sein könnte.«
    »Das sehe ich ein.«
    »In der Grube der Kerzenmänner sieht niemand.«
    Gemeinsam sagten sie: »Niemand sieht.«
    Plötzliche Einsicht ließ Hethor sagen: »Ich höre.« Er hörte sie tatsächlich , die Musik der Erde, weit unter allen

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