Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
durchquert hatten, hatte die Tafel noch nicht hier gelegen. Sie war auch noch nicht da gewesen, als Hethor zurückgewichen war, um die Augen zu schließen und zu lauschen.
Was immer hier durchgeflogen war, hatte die Tafel zurückgelassen, einer Eule gleich, die vor dem Neumond nicht zu erkennen war. Es hatte auch kein Geräusch gemacht außer dem Flügelschlag.
Hethor bewegte sich vorsichtig in den Raum und näherte sich der Tafel. Sie war rechteckig, etwa fünfundzwanzig mal fünfunddreißig Zentimeter. Keine Schraubenlöcher in den Ecken, weder erhabene Buchstaben noch der üblich römische Stil einer Gravierung. Es schien vielmehr so, als hätte jemand in Eile ein paar Buchstaben mit einem Griffel, der in Messing schreiben konnte, auf die Tafel geworfen.
Nur war die Tafel nicht aus Messing, bemerkte Hethor, als seine Finger sie berührten.
Sie war aus Gold.
Er nahm die Tafel auf. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Gedenktafel. Sie war kostbarer als alles, was er jemals in der Hand gehalten oder gesehen hatte, zumal sie von beachtlicher Dicke war, gut ein halber Zentimeter. Selbst wenn die Tafel nur mit Folie belegt war und innen aus Silber bestand, wäre sie immer noch wertvoll. War sie aus purem Gold, war sie ein Vermögen wert. Aber sie wog bei Weitem nicht genug, als dass sie aus Gold sein konnte.
Goldfolie also. Oder plattiert. Über etwas Leichtes, vielleicht Aluminium.
Ist ja auch egal, überlegte Hethor und starrte auf das Gekritzel in der Hoffnung, ein paar Buchstaben zu erkennen, aber das war unmöglich. Er musste die Inschrift erst sauber abschreiben und das Gekrakel in vernünftige Federstriche verwandeln.
Hethor war klar, dass er seinen Fund sofort Wollers oder Smallwood hätte melden müssen – alles andere war Verrat, fast schon Meuterei. Doch seine Loyalität gegenüber dem Erzengel, in dessen Auftrag er unterwegs war, übertraf sogar die Ansprüche der Royal Navy Ihrer Kaiserlichen Majestät. Hethor musste die Inschrift verstehen, bevor man ihm die Tafel wegnahm, und das würde sicherlich geschehen.
Hethor fühlte sich unwürdig, schob die Tafel aber dennoch unter sein Hemd und ließ sie hinter seinen Seilgürtel rutschen. Sie war kalt, konnte so aber wenigstens getragen werden, auch wenn das Gewicht unangenehm auf die Haut drückte.
Hethor fühlte sich keineswegs als Diebstahl. Er würde die Tafel in Malgus’ Kajüte bringen. Dort würde er sie in der Kartenkiste verstauen und versuchen, den Text zu übersetzen. Sobald er wusste, was er bedeutete – was es bedeutete, die Tafel hier, von Federn umgeben, in diesem Raum gefunden zu haben –, würde er Wollers und Kapitän Smallwood darüber berichten.
Hethor fand den Weg zurück zur Seilbrücke. Er war nervös, aber die Leute um ihn her dachten vermutlich, dass er bloß gegen seine Höhenangst ankämpfte. Das verhinderte wenigstens, dass jemand genauer auf ihn achtete und sich womöglich fragte, warum er leicht gebückt ging, die Hände über die Körpermitte gelegt.
***
Hethor kämpfte sich trotz der Belastung durch den Fallschirm über die Seilbrücke zurück auf die Bassett . Dabei fühlte er sich hin und her gerissen zwischen der Angst vor dem gähnenden Abgrund unter ihm und der Sorge um die Tafel, die ihm in die Leiste schnitt. Wie der Zufall es wollte, überquerte er die Seilbrücke erneut gemeinsam mit dem Schiffsarzthelfer. Diesmal aber war der Junge vor ihm, anstatt ihm mit ständigen Beschwerden über seine Langsamkeit zu folgen.
Ein Fuß nach dem anderen, dachte Hethor. Nur nicht stehen bleiben, nicht nachdenken, nicht nach unten schauen. Immer schön einen Fuß nach dem anderen.
Die Seile zuckten. Dann löste sich das Seil in seiner linken Hand und fiel nach unten. Hethor kreischte und packte das rechte Seil mit beiden Händen, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er bemerkte, dass er nicht der Einzige war, der schrie.
Entsetzt schaute er nach unten und sah, wie der Schiffsarzthelfer stürzte und in die Grube aus kaltem Stein und gen Himmel strebendem Holz fiel, die sich Stadt nannte, wobei er laut schreiend mit den Armen ruderte, als versuchte er zu fliegen.
Dann faltete sich der Fallschirm auf, ein Viereck aus Seide, das an den Ecken festgemacht und an einem Geschirr mit dünnen Seilen befestigt war. Der Schiffsarzthelfer verschwand unter dem sich blähenden Seidentuch, hörte aber nicht auf zu schreien.
Hethor stand zitternd auf der Seilbrücke, beide Fäuste um das verbliebene Seil gekrallt, und schwankte
Weitere Kostenlose Bücher