Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
gesehen hast, bist du gesegnet. Du wärest mehr als willkommen, hier im Jade-Tempel zu verweilen. Du würdest ein Mitglied unserer spirituellen Gemeinschaft sein und dem nächtlichen Sakrament des Hörens beiwohnen.«
»Nein«, sagte Hethor und errötete. Es verlangte ihn nicht danach, hier in der dünnen, kalten Luft zwischen haarigen Männern und wandelnden Statuen zu leben. Dennoch war die Einladung Balsam für seine Seele. Die Bassett war seine Heimat gewesen, wenn auch nur kurz. Davor hatte er Meister Bodeans Heim sein Zuhause genannt. Nun wurde ihm ein weiteres Heim angeboten, eine großzügige und verlockende Geste. »Ich muss jederzeit bereit sein, weiterzuziehen. Gabriels Nachricht war eine Warnung. Das Uhrwerk der Welt läuft ab, und die Räder der Zeit drohen stehen zu bleiben. Ich muss den Schlüssel der Ewigen Bedrohung finden und das Uhrwerk wieder aufziehen.«
Hethor verschränkte die Arme, presste die Lippen zusammen und erwartete, mit Gespött übergossen zu werden oder Schlimmeres.
Malgus enttäuschte ihn nicht. Der Engländer fing schallend an zu lachen. »Der Schlüssel der Ewigen Bedrohung? Du hast zu viele Groschenromane gelesen, Junge. Oder hast du unter Deck mit den falschen Spiritualisten einen über den Durst getrunken?«
Hethor zuckte bei den Worten des Navigators zusammen.
»Simeon.« Der Tonfall des Abts enthielt eine Warnung.
»Es tut mir leid, Junge«, sagte Malgus in freundlicherem Ton. »Du hast dich von einem Mummenschanz oder Skioptikon täuschen lassen.«
»Vielleicht stimmt das«, sagte der Abt. »Aber den Schlüssel der Ewigen Bedrohung gibt es tatsächlich.«
Hethor starrte den Abt an. Seine Demütigung war so schnell vergessen, wie sie ihn getroffen hatte. Malgus schnappte nach Luft, als wollte er verzweifelt Einspruch erheben.
»Es gibt ihn wirklich und wahrhaftig«, fuhr der Abt des Jade-Tempels fort. »Er ist allerdings auch eine Legende. Als euer Christus auf dem Räderwerk römischer Rechtsprechung gebrochen wurde, hinterließ er euch sieben Große Reliquien. Eine davon ist der Schlüssel der Ewigen Bedrohung.«
»Wo ist er?«, fragte Hethor aufgeregt.
»Ich weiß es nicht.« Der Abt lächelte. »Aber es mag Leute geben, die es wissen. Die Worte Christi sind in der Südlichen Welt nie auf Gegenliebe gestoßen. Die Äquatorialmauer hindert die englischen Kanonen daran, auf die andere Seite zu gelangen. Aber die Reliquien sind über die Mauer gelangt, vor vielen Jahrhunderten, vielleicht schon früher. Es gibt Weise im Süden, die durchaus wissen könnten, wo der Schlüssel der Ewigen Bedrohung zu finden ist.« Er hielt kurz inne, ehe er fortfuhr: »Ob die Erscheinung Gabriels echt war, kann ich nicht beurteilen. Aber in letzter Zeit stimmen die Tageszeiten nicht mehr. Die Zahnräder verschieben sich, und die Mauer schüttelt sich wie ein Hund, der aus dem Schlaf erwacht. Du bist der Erste, der mit einer Theorie aufwarten kann, die weder hanebüchener Unsinn noch purer Eigennutz ist.«
Der Abt des Jade-Tempels betrachtete Malgus eingehend und wandte sich dann mit einem sanften Lächeln wieder an Hethor. »Simeon wird dich gerne über die Mauer und hinunter auf die andere Seite begleiten. Dort wird er dir behilflich sein, die Weisen der Südlichen Welt zu finden, damit sie dir auf deiner Mission beistehen können.«
Malgus verschluckte sich an seinem Wasser und setzte die Tasse ab, nachdem er die geflochtene Matte zu seinen Füßen nassgespritzt hatte. »Ich habe wichtige Aufgaben in London und Damaskus zu erledigen«, beschwerte er sich. »Meine Kontakte in Boston tragen endlich Früchte, und ich ...«
»Simeon«, unterbrach der Abt ihn mit leiser Stimme. »Andere Männer und Frauen werden solange deine Arbeit übernehmen. Dies ist eine Gelegenheit, die niemand von uns vorhersehen konnte. Wir sollten uns Gottes Willen beugen, auch wenn er uns damit in einem unerwarteten Augenblick erreicht. Es gibt auf dieser Welt keine Zufälle.«
»Ich werde mich selbstverständlich deinem Wunsch beugen«, antwortete Malgus steif, »denn du hast dir meine Einsprüche angehört und sie in deiner Weisheit gerecht beurteilt. Wenn wir heute um Mitternacht aufbrechen wollen, muss ich mich um die Vorbereitungen kümmern.« Er stand auf, nickte Hethor zu und verließ mit hochmütiger Miene den Raum.
»Ich muss fest daran glauben können, dass ich das Richtige tue«, sagte Hethor. »Aber es ist sehr leicht, daran zu zweifeln.« War er für die Südliche Welt bereit? Die Mauer zu
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