Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
notgedrungen zum Doktor gehen müssen.«
Er wurde als Letzter durch eine weitere Metallsperre geführt. Dahinter herrschte Lärm. Das knirschende Kreischen des Dampfbohrers brannte sich mit der Unausweichlichkeit einer tödlichen Krankheit in Kitchens’ Kopf. Das Geräusch schien seine Augen zu formen, als ob er durch Wasser blickte.
Dieser Raum war wesentlich breiter als der Tunnel und beleuchtet wie die Wartesäle am Tag des Jüngsten Gerichts. Flackernde Kerzen, Öllampen und an mehreren Stellen electrische Leuchten, die von einem fernen Generator angetrieben wurden – sie alle ergaben ein unruhiges, aber stimmungsvolles Bild.
Die Decke war höher, als Kitchens sehen konnte, denn die sich verjüngenden Wände verschwanden im Schatten. In der Nähe des Bodens hatte man den Raum ähnlich einer Londoner U-Bahn-Station verbreitert, sogar einschließlich der Säulen. Eine normale Dampflokomotive stand ungenutzt auf dem Abstellgleis – eine 2–2 Rangierlok von Boulton & Watt. Mehrere Zugwaggons waren auf kurzen Gleisen abgestellt, außerdem ein paar Flachwagen und einige massige Gleisbaugeräte.
Alles andere waren Vorräte und Männer. Wenn Hieronymus Bosch Lagerhäuser gemalt hätte, dann hätte er vielleicht diese Szene eingefangen. Die Vorräte waren zwischen den Waggons gestapelt – Gleise, Schwellen, Hunderte Quadratmeter Segeltuch, aus der Zeltstadt geborgen, die früher draußen das Lager ausgemacht hatte. Es gab glitzernde Wasserfässer, die von der Größe eines einfachen Fässchens hin zu gigantischen Bottichen reichten, die auf Gleise gesetzt werden mussten, damit man sie bewegen konnte; schließlich haufenweise Alteisen, Kohle, Nägel, Werkzeuge.
Und überall Männer. Die aus Zelten starrten. Die auf kleinen Betten saßen. Die eingewickelt waren in Decken und unter riesigen Maschinen aus Eisen lagerten. Kaum geschützt von Segeltuchhüllen, die man an den Wänden angebracht hatte. Einige hielten sich auf grob herausgeschlagenen Vorsprüngen weiter oben auf. Wieder andere auf den Waggondächern.
Hier erwartete die Verdammten eine ganz besondere, in Eisen geschlagene Ewigkeit, während sie immer tiefer gruben, ohne je das Ende zu finden.
Der Lärm durchdrang alles; er bestimmte den Raum und brannte sich in den Verstand und in die Seelen der Männer. Kitchens fragte sich, wie viele der Erdarbeiter bereits taub waren. Wer es noch nicht war, würde es sicher sehr bald werden.
Er sah zu der Absperrung zurück. Dort waren Waffen gestapelt und abgestellt – Karabiner, Gewehre, Pistolen, Granaten, angespitzte Eisenstangen, Krähenfüße – und warteten nur darauf, gegen einen Angriff auf den Tunnel oder bei einem Ausfall an die Oberfläche eingesetzt zu werden. Die Kämpfe mussten fürchterlich gewesen sein, wenn das Leben in dieser finsteren, von ohrenbetäubendem Lärm durchzogenen Höhle weiteren Auseinandersetzungen vorzuziehen war.
Was aßen sie? Wie wurde das Wasser hierher gebracht? Ottweills Männer waren sicherlich regelmäßig dazu gezwungen, Ausfälle zu machen. Wer den Preis für eine Mahlzeit in verlorenen Leben aufrechnen musste, würde mit der Zeit natürlich unerbittlicher als papistische Heilige werden.
Ihr Anführer legte seine Hände trichterförmig um den Mund und brülle Kitchens ins Ohr: »Sie werden in diesem Büro auf den Doktor warten.«
Es handelte sich dabei um eine Hütte, die auf einem Flachwagen aufgebaut worden war. Der freie Platz um die Hütte war mit Papieren übersät, die massenweise aus Schachteln heraushingen und von Regalen herunterfielen. Zwei Jungs saßen faul inmitten des Papiergestöbers, nahmen aber sofort Haltung an und wirkten auf einmal sehr beschäftigt, als Kitchens und sein Begleiter bei ihnen auftauchten.
Der Mann deutete mit einem Finger auf die Hütte. Kitchens nickte, kletterte auf den Flachwagen und öffnete die Tür.
Drinnen war es zum Glück kühl und relativ ruhig. Die Fenster hatte man zugenagelt, und die Wände waren mit dicken Papierbündeln versehen. Kitchens verstand, dass damit der Lärm reduziert wurde und diesen Raum zu einem Ort machte, wo ein Mann sich hinsetzen und in Ruhe nachdenken konnte – im Gegensatz zu dem Gefühl, seinen Kopf die ganze Zeit in eine mächtige, ständig geschlagene Glocke zu halten.
Das auffälligste Merkmal des Büros war eine Tafel, auf der zwei Listen geführt wurden. Die eine hielt den Fortschritt des Tunnelbaus nach; in den bisherigen 74 Tagen war man 3891 Meter vorgedrungen. Die andere Liste war die
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