Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
konzentrierte sich, anstatt ihre Energie auf das Entsetzen zu verschwenden. Geflügelte Wilde stürzten herab. Enge Kreise ziehend verfolgten sie die beiden Frauen mit mächtigen Flügelschlägen.
Sie werden mir die Kehle durchschneiden.
Ich werde so hart auf dem Boden aufschlagen, dass ich es nicht einmal bemerken werde.
Die Angst wird mir die Luft aus den Lungen pressen, und ich werde schon während des Sturzes sterben.
Die Taschenuhr hielt sie immer noch in ihrer linken Hand. Die Finger der rechten strichen über die geriffelte Aufzugskrone. Der Körper erinnerte sich an das, was der Verstand nicht wahrnehmen konnte, weil er zu sehr abgelenkt war.
»Nur weil ich stürze, heißt das noch nicht, dass ich tot bin«, rief sie in die teilnahmslose Luft hinein. Die Worte beendeten das Schreien.
Gashansunu öffnete die Augen, drehte sich im Fallen und griff mit der ausgestreckten Hand nach Paolina. Das Mädchen ließ die Aufzugskrone los und packte die Hexenmeisterin, denn sie hatte die richtige Justierung gefunden. Sie hatte sie eigentlich nie verloren gehabt.
Als sich Gashunsunus Hände um ihre Handgelenke schlossen, erreichten die geflügelten Wilden sie. Finstere Augen funkelten. Bronzeschwerter glitzerten im Mondlicht. Große Ledersegel auf Knochenspanten knarzten.
Sie würde sterben in 3, 2, 1 … und Paolina trat auf die Luft und nahm die Hexenmeisterin in dem Augenblick mit sich, als die Klingen aufblitzten.
Unter ihnen waren feuchte Explosionen zu hören. Paolina und Gashansunu federten nach oben und schlug in die Unterseite von etwas Schwerem und Festen; dann prallten sie nach unten, auf Holz, das genauso gut auch Fels hätte sein können.
Jemand schrie. Diesmal war es nicht sie. Ein Holzbalken glitt an ihrem Gesicht vorbei und schlug einen panischen Matrosen zu Boden. Danach kehrte für einen Moment Ruhe ein.
»Was hast du mit ihnen gemacht?«, rief ein Mann.
Boas beugte sich über sie. Sein Gesicht war eingefroren, teilnahmslos, bewegungslos, abgesehen vom Flackern der metallenen Augen, aber auf irgendeine Weise konnte sie dennoch erkennen, dass er besorgt und zugleich erleichtert war.
»Paolina.« Seine Stimme stotterte und knackte ein wenig, als sie sich ihren Weg durch das kleine Gitter in seinen zusammengepressten Lippen bahnte. Der Messing war schwer beansprucht worden.
Ihr Herz erstrahlte in so hellem Licht, dass sie sicherlich von innen heraus erglühen, dass es aus ihren Poren entströmen musste wie ein Freudenfeuer, das man in der Tiefe des Waldes entdeckt.
»Boas.«
»Sie sind nicht alle tot«, sagte Gashansunu mit rücksichtsloser Sachlichkeit.
Paolina setzte sich auf. Das Deck war hart, und ihr gesamter Körper war eine einzige Prellung. »Wer ist nicht alles tot?«
Die Hexenmeisterin stand an der Reling. Vier Matrosen wichen mit gesenkten Gewehren vor ihr zurück. Sie ignorierte sie, während sie nach unten blickte. »Du hast die Energie deines Sturzes auf die meisten dieser geflügelten Teufel übertragen. Eine Hand voll von ihnen kehrt nun zu uns zurück.«
»An die Reling!«, brüllte Boas und trieb seine Besatzung voran.
Kanonendonner dröhnte durch die Nacht. Einen kurzen Augenblick lang war Paolina froh, bis sie bemerkte, dass die Schüsse nicht von ihrem Luftschiff stammten. Wo waren sie?
Sie stand schwankend auf und sah, dass sie von zwei Luftschiffen verfolgt wurden. Sie erkannte die Schlachtlaternen und die Haiumrisse, die durch die mondbeschienene Nacht glitten. Chinesische Schiffe, wie die Shirley Cheese , die sie auf ihrer Reise mit der Notus Richtung Norden zum Absturz gebracht hatte. Wie die Heaven’s Deer , die sie über dem Indischen Ozean zerstört hatte. Wie die Besatzungen der drei Luftschiffe, die sie vor der Küste Sumatras getötet hatte.
»Ich werde sie nicht noch mal töten«, murmelte sie und erinnerte sich an den alten Arzt an Bord der Heaven’s Deer , der al-Wazir geholfen hatte, und an die Matrosen der Five Lucky Winds , die sich ihr gegenüber so anständig benommen hatten.
Das waren vernünftige Männer.
Boas war wieder an ihrer Seite. Hatte er sie je verlassen? »Sie werden uns töten«, teilte er ihr mit. »Sobald ihnen diese Spielerei langweilig wird und sie wieder ihre Raketen abfeuern. Dann werden wir als riesiger Feuerball vom Himmel stürzen.«
»Ich bin für heute mehr als genug gefallen.« Paolina schloss die Augen und machte sich über Luftschiffe Gedanken.
Ihre Ruhe war in der sie umgebenden Gewalt ein merkwürdiges Ding.
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