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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Hexenmeisterin hatte nicht mehr solche Angst empfunden, seitdem man sie damals als Mädchen in die Höhle der Haie geschickt hatte, um ihren zweiten Übergangsritus zu vollziehen. Sie hatte damals gewusst, dass sie dem Tod nahe war.
    Heute, als sie wie ein verwundeter Vogel durch die Luft fiel, hatte sie gewusst, dass ihr der Tod bevorstand. In Gashansunus Vorstellung der Schweigenden Welt musste man sich irgendwo befinden , um irgendwo hingehen zu können. Man bewegte sich nicht einfach durch Luft.
    Sie war hinabgestürzt und hatte ihre Seele auf den Tod vorbereitet, während sie sich die Möglichkeit eines Wunders immer noch offenhielt. Und ein Wunder war geschehen, aber sie hatte es nicht aus dieser merkwürdigen Ecke erwartet.
    Nun sah sie, wie Paolina auf dem Deck zusammenbrach und sich der Messingmann und der seltsame, gefährliche und dem Wahnsinn nahe wirkende Kerl in ramponiertem Schwarz über sie beugten. Die Matrosen hielten weiterhin Abstand von dem Mädchen, bewaffnet und dennoch unruhig. Sie hatte bereits den Funken aus ihren Waffen gestohlen, und sie konnten sie daher nur noch mit ihren bitterbösen Blicken angreifen, aber das wussten sie nicht.
    Noch nicht.
    Die feindlichen Luftschiffe waren zurückgefallen. Gashansunu fragte sich, wer sie gewesen waren. Nach dem, was sie in Hethors Dorf erfahren hatte, war die Nördliche Hemisphäre in einige unvorstellbar große Städte aufgeteilt, die ihre Macht auf gestiefelten Füßen und kräftigen Schwingen in die Welt hinaustrugen. Das stand im Widerspruch zur Südlichen Hemisphäre, wo die Macht zu Hause blieb und die wenigen existierenden Städte nur das nahmen, was sie benötigten, und auch das nur aus dem Land in ihrer Nähe.
    Sie konnte die Städte in ganz Afrika an einer Hand abzählen – ihre Stadt natürlich, der Nabel der Schattenwelt; das Knochenvolk und ihr kleines, seltsames Reich an der Wüstenküste weit im Süden; die kleinen Menschen, die tief in der Wüste lebten, die ihre Zauberkraft in hölzernen Blitzstäben mit sich trugen und mit den Elefanten redeten, um sie in die Knie zu zwingen; die Kristallmagier auf ihrem Tafelberg an der südlichsten Landspitze. Es gab natürlich noch mehr Städte auf der anderen Seite des sie umgebenden Ozeans, entlang der Küsten aus Eis und Feuer.
    Hier gab es nur zwei: England und China. Gashansunu wusste aber, dass sie keine Todfeinde sein konnten, denn Paolina war mit Ming gereist, und das Mädchen hatte ihn über die Mauer zurückgebracht und ihn in einem Boot auf den Weg nach Hause geschickt.
    Nun hatte das Mädchen Gashansunu durch die Luft getragen, sie durch ein Wunder vor dem Sturz gerettet und zugleich einem Dutzend Wilder das Genick gebrochen. Dieser Gedanke war nicht aus dem Verstand der Hexenmeisterin zu tilgen, denn er ließ sich weder festhalten noch verflüchtigte er sich, bis sie ihn mit Händen aus Schweigen zu packen bekam. Paolina hatte die Körper dieser geflügelten Wilden für ihren Schritt genutzt.
    Wie viel von der Macht des Mädchens lag in ihrem Schimmer und wie viel in ihr selbst? Diese Frage stellte sich Gashansunu. Paolina war wie keine andere Hexenmeisterin vor ihr.
    »Genug«, sagte sie und vertrieb diese Gedanken. In diesem Augenblick lebte sie, entgegen aller Erwartung und jedes Verstands. Dieses Luftschiff war in großen Schwierigkeiten, aber es drohte nicht aus dem Himmel zu stürzen. Paolina war in Schwierigkeiten, aber ihr drohte nicht der Tod. Gashansunu ging zum Bug, zögerlich gefolgt von einigen Matrosen, die ihre Waffen nicht auf sie zu richten wagten, und sah in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Während sie auf die Rückkehr der geflügelten Wilden wartete, belebten der Messingmann und der Wahnsinnige das Mädchen wieder, das sie alle gerettet hatte.
    Sie stand dort recht lang. An Deck war es ruhig geworden, abgesehen von den gelegentlichen Schreien der Verwundeten. Die Motoren keuchten und schnauften angestrengt, unterstützt von den Flüchen der Maschinisten. Afrika glitt unter ihnen vorbei, das Wasser zu ihrer Linken, Land zur Rechten. Der Himmel war mit feinen Wolken überzogen, die den Mond verhüllten.
    Gashansunu suchte nach ihrem wa . Der Übergang über die Mauer hatte es quälender Unsicherheit unterworfen. Sie hatte ihr anderes Ich nicht mehr gespürt, seitdem sie dieses Luftschiff betreten hatte. Jetzt erweiterte sie ihren Geist und rief es herbei.
    Schwester meines Fleischs, Zwilling meiner Seele, mein wahres, mein schweigendes Ich, kehre nun zu mir

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