Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Ozean mündet.«
Sie setzte sich hin. Es fühlte sich unhöflich an, aber ihn derart zu überragen war auf eine Weise auch unangemessen. So konnten sie auf Augenhöhe miteinander sprechen. »Sind Sie es, zu dem ich geschickt wurde?«
»Nein.« Kalker lachte keuchend. »Wie einer von euren Engeln bin ich nur ein Bote. Ein Prophet lebt unter uns, der ausgesandt wurde und wieder zu uns zurückgekehrt ist. Er wird diesen Ort nie wieder verlassen, aber ihr seid die Ersten, die ihn aufsuchen.« Der alte Mann wirkte nun nachdenklicher. »Ich hoffe, dass ihr die Letzten seid.«
Er betrachtete Ming. »Was für eine Art Mensch seid Ihr?«
»Ich bin ein Matrose des Himmlischen Kaiserreichs«, antwortete Ming auf Chinesisch.
»Hm.« Kalker schloss für einen Augenblick seine Augen und sagte dann auf Englisch: »Willkommen in unserem Dorf.«
»Hat dieser Ort einen Namen?«, fragte Paolina.
»Muss er einen haben?«
Darauf hatte sie keine wirkliche Antwort und ließ das Gespräch verstummen. Kalker schien dies nur zu begrüßen, bis in der Ferne ein Heulen zu hören war. »Ah, wir sind so weit. Bitte folgt mir.«
Er drehte sich um und schritt die Holzstufen hinauf. Paolina folgte ihm und Ming ihr.
Oben auf dem Weg hatte sich das vergessene Volk versammelt. Viele trugen Früchte oder Blumen, als ob sie sich zu einer Opfergabe aufmachten. Andere hielten Kinder in ihren Armen oder hatten die Hände ihrer Freunde ergriffen. Auf den Gesichtern, die sich ihnen präsentierten, zeichneten sich Stolz und Freude ab. Es waren keinerlei Angst oder Anspannung zu beobachten, und das fiel ihr auf. Ming war ihr nun so nah, dass er ihr fast in die Hacken lief.
Paolina war wenig überrascht, dass sie nun auf das so europäisch wirkende Haus zugingen. Kalker führte sie zu einer Leiter, die in einen der großen Baumstämme geschnitzt worden war. Er machte ihnen Platz, denn die ernste Frau des vergessenen Volkes erwartete sie dort.
»Mein Name ist Arellya«, sagte sie auf Englisch. »Seid ihr bereit hinaufzuklettern?«
»Natürlich.« Paolina war sehr neugierig, ihren Propheten kennenzulernen.
»Ich gehe als Letzter«, sagte Ming leise auf Chinesisch.
Paolina legte ihre Hände auf die knorrige Holzsprosse direkt vor ihren Augen. Sie fühlte sich grob und bemoost an. Sie spürte, wie unter ihrem Griff winzige Blumen zerquetscht wurden. Sie kletterte in die zunehmende Dunkelheit hinein. Der Aufstieg war recht einfach, aber da sie vom vergessenen Volk dabei beobachtet wurden, hatte es etwas von einem Ritual.
Oben angekommen zog sie sich auf eine Veranda. Ein breiter Durchgang führte nach innen. Dünne Vorhänge wiegten sich leicht in der Brise. Im Raum saß ein Mann – nein, ein Junge mit schmalen Schultern, der kaum das Mannesalter erreicht hatte, und ihrem Volk entstammte. Er wirkte wie ein Schemen auf sie.
»Willkommen.« Seine Stimme ließ auf einen Engländer schließen, aber aus einer der Kolonien. »Ich bin gerade dabei, eine Uhr zu bauen.« Ohne aufzustehen, deutete er auf einen Stuhl gegenüber seines Arbeitstisches. Ming schlängelte sich zu ihr hinüber und stellte sich an ihre Schulter.
Der Prophet beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Mein Name ist Hethor Jacques. Sagt mir, welches Unheil hat Gott diesmal auf die Welt losgelassen?«
Gashansunu
Der Traumpfad öffnete sich mit einem fahlen Krokodil, das in tiefem, dahinsausendem Wasser schwamm. Sein Körper zuckte wie der eines gepanzerten Aals. Die großen Beine schlugen vor und zurück, um das Scheusal voranzutreiben. Sie schwamm neben ihm, genau wie ihr wa sie begleitete, und sah in die strahlend hellen Tiefen der goldgesprenkelten Augen.
Das Gewässer erstreckte sich vor ihr, wie die Wolken sich am Himmel verteilen, und Gashansunu verstand, dass das Krokodil nicht die ozeanischen Tiefen zu ergründen versuchte. Ohne jemals das Land zu sehen, achtete es nur der unendlichen Fülle der Sterne, denn sein Blick war stets auf den Himmel gerichtet. Dies war ein Seelenjäger, ein Geisterfresser, und das Medium, in dem es seinem Treiben nachging, war die Schweigende Welt.
Sie nutzte das Prinzip des Träumens und trat von ihm fort. Das Krokodil wurde kleiner und dann noch kleiner, bis es schließlich nur noch ein winziger Silberfisch im Kampf gegen die Strömung war, ein klitzekleiner Feuersplitter in den Augen. Gashansunu griff danach und zerquetschte es zwischen ihren Fingern. Den brennenden Schmerz ihres Fleischs akzeptierte sie, denn in Wirklichkeit war das nur ein
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