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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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verschwunden. »Wir können auch die gesamte Strecke hinter uns bringen, ohne Nachschub aufzunehmen, aber in Ayacalong fehlen uns die notwendigen Anlagen. Wenn wir mit zu wenig Treibstoff dort ankommen, müssen wir uns mühsam gegen den Wind zum neuen Standort in Cotonou zurückkämpfen. Und Sir … kein Luftschiffmatrose, der noch ganz bei Trost ist, wird sich über die Wüste trauen, wenn er nicht so viel Gas, Treibstoff und Wasser wie nur möglich dabeihat.«
    »Würde volle Kraft voraus unsere Reisezeit verkürzen?«
    »Sicher, aber dann verbrennen wir den Treibstoff doppelt so schnell. Öl ist verdammt schwer, und die Notus trägt davon nicht so viel mit sich, wie Sie vielleicht glauben mögen. Wenn wir Pech haben, gehen wir ab der Bucht von Benin zu Fuß zurück.«
    »Ohne Hilfe haben diese Reise nicht viele Männer überstanden«, sagte Kitchens und dachte an al-Wazir.
    Später, als er in seine kleine Kabine zurückgekehrt war, befasste er sich mit Ottweills Mission und überlegte, was die Notus inmitten der wilden Wunder der Mauer wohl vorfinden würde. Es war nicht sonderlich schwierig, genügend Beweise dafür zusammenzubringen, dass jedes Land, das seine Herrschaft auf die gesamte Nördliche Hemisphäre auszudehnen versuchte, von komplett durchgeknallten Männern regiert werden musste. Die schreckliche Pracht von Queen Victoria in ihrem bedauernswerten Zustand des Verfalls reichte völlig aus, um Kitchens zu überzeugen, dass die Mauer kein Monopol darauf beanspruchen konnte, die Menschen um ihren Verstand zu bringen und ihre Seele Schaden nehmen zu lassen.
    Mit diesem Gedanken griff er nach der kleinen Schachtel, in der er das blutige Dokument der Queen untergebracht hatte.
    Es hat nichts mit der Fantasie zu tun , dachte Kitchens. All das hier – die Kaiserreiche, die Mauer, der fortwährende Streit zwischen England und China – drehte sich um Angst.
    Das Dokument war seit geraumer Zeit getrocknet. Er hätte es auseinanderfalten sollen, bevor die blutige Schmiere aushärtete. Seitdem hatte es keine passende Gelegenheit dazu gegeben – Kitchens war einfach noch nicht bereit gewesen.
    Er hatte Angst vor der Nachricht, die ihm die Queen gegeben hatte. Er hatte Angst vor dem, was er auf ihre Bitte hin zu tun hätte. Er hatte Angst, an die Küsten Englands zurückkehren und seinen Hals unter die Klinge legen zu müssen, weil ihm eine Irre, die in einem Wassertank herumschwamm, einen Befehl erteilt hatte. Er hatte Angst davor, den rechtmäßigen Befehl seiner Monarchin zu verweigern. Er hatte Angst davor, den letzten Wunsch einer Königin abzulehnen, die auf der halben bekannten Welt geliebt wurde.
    Kitchens erlaubte sich den Wunsch, dieses Dokument niemals in seine Hände bekommen zu haben, doch da er keine Wahl gehabt hatte, konnte er auch nicht ablehnen, Einblick zu nehmen.
    Nun legte er es auf den kleinen Tisch, den er vor der Kabinenwand herabgeklappt hatte. Ein gefaltetes Stück Papier in der Größe einer Briefmarke. Das Original hatte aus Packpapier bestanden, nicht dem feinen Briefpapier eines königlichen Palasts oder selbst dem ordentlichen Papier eines Gentleman in Eile. Das hier war etwas, das ein Bediensteter dafür nutzte, eine Wäscheliste zu führen. Etwas, das eine Frau verstecken mochte, deren Bewegungen durch Vorrichtungen und ständige Überwachung eingeschränkt waren.
    Mit einer eingeübten, schnellen Geste fiel das Rasiermesser aus seinem Ärmel in die Hand. Kitchens öffnete die Klinge mit dem Daumen, ohne sich die Mühe zu machen hinzusehen. Seine Klingen waren immer perfekt geschliffen und glänzten silbern im Licht. Der Zettel war mit Blut und anderen Flüssigkeiten getränkt; er hatte ein dunkles Rot angenommen, war verkrustet und sah aus wie ein misslungenes Quadrat aus Pappmaschee.
    Er hob die freiliegende Ecke des kleinen, gefalteten Papierstücks mit der Klingenspitze. Es machte keinen Sinn, mit ungeschickten, stumpfen Fingern zu hantieren. Das Papier gab ein leise knackendes Geräusch von sich und öffnete sich dann zu einem Rechteck.
    Zu seiner Überraschung riss es nicht an der Knickstelle.
    Er schaffte es mit der Klingenspitze die Verkrustungen an weiteren freiliegenden Papierecken aufzubrechen. Er war so geduldig wie ein Mann, der gerade Sprengstoffe anrührte.
    Als sich die Windströmung änderte, geriet das Luftschiff kurz ins Schlingern. Kitchens legte das aufgeklappte Rasiermesser auf den Tisch, ein Finger auf den Griff gedrückt, damit es nicht zur Seite rutschen

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