Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Ufer befand sich ein Amphitheater, das von Kletterpflanzen überwuchert war. Die Sitze hatte man aus Steinen oder Scheitholz gefertigt.
»Kalker wird euch hier treffen«, sagte ihre Führerin. »Dies ist ein besonderer Ort, der zur Ehre von … Nun, das ist seine Geschichte.«
Paolina lächelte. »Wie ist dein Name, damit ich meinem Dank später besser Ausdruck verleihen kann?«
»Arawu«, lautete die schüchterne Antwort der Frau. Sie fügte etwas in einer zischend klingenden Sprache hinzu. Dann: »Ich gehe.«
Ming verbeugte sich tief. Arawu kicherte und trabte das Amphitheater wieder hinauf, bevor sie im Dschungel verschwand.
»Was nun?«, fragte der Matrose auf Chinesisch.
»Wir warten«, sagte sie in derselben Sprache. Dann wechselte sie in das Englische: »Ich glaube, das ist der Ort, an den uns der Engel hatte schicken wollen.«
Paolina genoss diesen Augenblick des Erfolgs – was immer auch ihr Ziel seit der Überquerung der Mauer gewesen war, sie hatte es erreicht – und betrachtete die Feder genauer. Ihr Weg durch den Dschungel hatte die Armschwinge sichtlich mitgenommen. Als sie durch das Dorf gegangen waren, hatte das Vergessene Volk die Feder viel intensiver angestarrt als sie.
Sie versuchte, sich ein Dschungelmonster vorzustellen, das in niedriger Höhe über sie hinwegflog. Die Leute hier schienen nicht in ständiger Angst vor Angriffen aus der Luft zu leben. Sie schienen überhaupt nicht sonderlich viel zu fürchten.
Paolina fragte sich, was Boas in diesem Ort gesehen hätte. Ming war ein wunderbarer Reisegefährte – respektvoll, beschützend, rücksichtsvoll –, aber obwohl sie schon seit fast einem Monat zusammen unterwegs waren, konnte Paolina ihn nicht als einen Freund bezeichnen.
Nichts im Vergleich zu dem, was sie und Boas auf a Muralha miteinander hatten. Der Messingmann war faszinierend, machte sie wütend, war ihr gegenüber respektlos und sogar seltsam, aber er hatte immer etwas Unschuldiges an sich gehabt.
Selbst Ming mit seiner asiatischen Geduld und ruhigen Höflichkeit war ein Kerl. Ein Mann, der sich schützend vor sie stellte, der im Notfall eine Waffe in die Hand nahm und sowohl schnelle Entscheidungen fällen als auch ungerechtfertigte Forderungen stellen konnte.
Doch eine aufrechte Stimme in ihr unterbrach diesen Gedanken: Hatte Boas sich nicht ähnlich verhalten, als er sie damals gegen ihren Willen die Mauer hinabgetragen hatte?
Das war etwas anderes gewesen. Paolina wusste das mit Sicherheit, genauso wie sie wusste, wie breit ihre Hände waren. Es war etwas anderes, weil es sich um Boas handelte, er war für sie etwas Besonderes, in ihren Augen vielleicht sogar großartig? Oder war er einfach nur anders, weil er kein Mensch war?
Könnte sie ein Mitglied des Vergessenen Volkes lieben?
Ming tippte ihr wieder an den Arm. Sie folgte seinem Blick.
Ein älterer Mann des Vergessenen Volkes humpelte die Kurven des Amphitheaters hinunter und kam auf sie zu. Sein Fell war silbern, sein Gesicht voller Falten, und er benutzte einen kurzen, knorrigen Gehstock. Einige Köpfe nickten ihm hinterher, anderen warfen einen kurzen Blick, aber sie wichen seinem sofort aus, wenn er sie ansah. Dies musste Kalker sein.
Paolina stand auf. »Willkommen, Sir.«
Kalker kam schlurfend näher und sah zu ihr auf. Seine Augen waren mit Schleim verklebt, aber ein wacher Geist funkelte in ihnen. Dann betrachtete er Ming und tippte das Knie des chinesischen Luftmatrosen einmal sanft mit seinem Gehstock an. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Paolina.
»Sie haben eine Feder.« In seinem Englisch schwang der seltsame, zischende Akzent seines Volks mit. Paolina fragte sich, wie Arawu die Sprache so fehlerfrei hatte lernen können.
Sie hielt die Feder des Engels hoch. Kalker nahm sie entgegen, drehte sie einmal in seiner Hand hin und her und reichte sie ihr dann zurück. »Boten aus der Nördlichen Hemisphäre«, sagte er mit großer Autorität. »Wir verfügen hier über unsere eigene Schöpfung. Die Mauer sorgt für die Sicherheit des Gartens, wie ihr Volk es ausdrücken würde.«
»Wie erklärt Ihr Volk es?«, fragte sie fasziniert.
Er lächelte leichthin und entblößte dabei die abgenutzten Zähne eines alten Manns. »Das vergessene Volk erklärt nicht. Wir erleben. Jeder Tag ist der Morgen der Welt, jede Nacht bedeutet ihr Ende. Nur ihr Nordmenschen müsst die Zeit als Fluss verstehen, der einer verborgenen Quelle entspringt und in einen dunklen, weit entfernten
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